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Kapitel 2 - Parkinson

Wie das denn funktionieren soll, können Sie mir sicher auch nicht erklären. Ruhig zu bleiben, wenn um 5:30 Uhr in der Früh das Telefon klingelt, Sie schlaftrunken abheben, sich melden und die Stimme der Nachbarin ihrer kränkelnden Mutter hören.

 

Auch wenn der erste Satz lautet: „Sie müssen sich keine Sorgen machen.“ Das klappt nicht, Sie erschrecken und machen sich Sorgen.

 

Meine Mutter Marianne war, so der Bericht der Nachbarin, im oder auf dem Weg in das Krankenhaus. Offenbar war sie in der Nacht gestürzt, konnte nicht mehr aufstehen, hatte sich aber irgendwie bemerkbar machen können, ob durch Betätigung ihres Hausnotrufes, durch Klopfen oder Rufen, habe ich bis heute nicht in Erfahrung bringen können. Jedenfalls war die Nachbarin, die auch sonst häufig nach meiner Mutter sieht, durch Lärm im Treppenhaus geweckt worden, hatte sich zur Wohnung meiner Mutter, gleiche Etage, nur rechts begeben und dort Polizei, Feuerwehr, Sanitäter, zwei Angestellte des Pflegedienstes und den Nachbarn, der unter der Wohnung meiner Mutter wohnt vorgefunden. Meine Mutter lag schon auf der Trage der Sanitäter, war aber ansprechbar und klagte über Schmerzen am rechten Arm. Das waren die Informationen derentwegen ich mir keine Sorgen machen sollte.

 

Ich bin so gut wie unterwegs und vielen Dank für die Benachrichtigung“, entgegnete ich und beendete das Telefonat.

 

Wenig später befand ich mich im Auto, unterwegs zur Wohnung meiner Mutter. Ca. 30 km hatte ich zu fahren. So früh morgens, es war kurz nach 6:00 Uhr, dauerte das nur eine knappe halbe Stunde. Schon auf der Fahrt grübelte ich, wie das hatte passieren können.

 

Meine Mutter war an Parkinson erkrankt. Vor ungefähr 2 Monaten war es gelungen, für sie eine kontinuierliche neurologische Behandlung zu beginnen. In den 6 Monaten vorher, seit wir von der Diagnose Parkinson wussten, mussten wir improvisieren. Mangels notwendiger Kenntnisse und verfügbarer medizinischer Ressourcen.

 

Diagnostiziert wurde Parkinson während eines früheren Krankenhausaufenthaltes von Marianne. Dort wurde auch die Medikation bestimmt, die nach der Entlassung durch den Hausarzt verordnet wurde. Das lief nicht ganz so unproblematisch, doch dazu später mehr. Nur durch den engagierten Einsatz ihres Hausarztes, der gute Beziehungen zu einem Neurologen hatte, bekam meine Mutter überhaupt einen kurzfristigen Vorstellungstermin in der neurologischen Ambulanz des Krankenhauses an ihrem Wohnort. Und das auch noch beim Chefarzt Dr. Kloos, einem anerkannten Neurologen. Eigentlich war das unmöglich. Denn der Chefarzt nahm nahezu keine neuen Patienten an. Neue Patienten wurden auf die anderen Ärzte der neurologischen Ambulanz verteilt. Und schon bei denen war eine Wartezeit von mehreren Monaten die Regel. Und wir hatten wirklich einen kurzfristigen Termin. Mit nur einer guten Woche Wartezeit.

 

Das Ergebnis des Vorstellungstermins war neben einer Bestätigung der Parkinsondiagnose die Aussicht auf eine trotzdem mögliche Erhöhung der Mobilität meiner Mutter. Laut Aussage des Arztes läge ihre aktuelle Medikation bei ca. 30% der maximal möglichen Medikation, sodass er versuchen würde, über eine langsame Steigerung der Medikation das für meine Mutter sinnvolle Optimum zu finden. Er machte keinen Hehl daraus, dass wir ein Stück weit experimentell vorgehen müssten, da die Einstellung von Parkinsonpatienten ein langwieriger, jeweils individuell zu gestaltender Prozess wäre. Try and error also, nicht schön, aber offenbar alternativlos. Er erhöhte folglich die Levodopa-Dosis und reduzierte im Gegenzug ein anderes neurologisches Medikament namens Amantandin, sowie ein weiteres Medikament. Wie später noch zu berichten sein wird, musste meine Mutter wegen anderer Beschwerden noch viele weitere Medikamente dauerhaft einnehmen. Aber auch dazu später mehr, derzeit ist das nur insofern von Relevanz, als die umfangreiche existierende Medikation die Einstellung der Medikation zur Minimierung der Parkinsonsymptome noch zusätzlich erschwerte. Neben den Rezepten für die Anpassung der Medikation meiner Mutter erhielten wir einen Folgetermin in gut vier Wochen.

 

Erste Effekte der veränderten Medikation zeigten sich bereits nach drei bis vier Tagen, leider jedoch in die falsche Richtung. Meine Mutter wurde zunehmend immobil. Konnte sie anfangs noch selbstständig aus dem Sessel aufstehen, sie hatte dazu eine interessante Technik entwickelt, indem sie sich an dem schweren, mit einer Glas- und einer Marmorplatte versehenen Couchtisch festhielt und hochzog, war ihr das schon wenige Tage später nicht mehr möglich. Zusammen mit den schon in den Tagen vorher zu beobachtenden Problemen beim Laufen und hier insbesondere bei Losgehen und bei Richtungswechseln, war sie nach ungefähr 10 Tagen nach dem Termin beim Neurologen völlig immobil. Gemäß Murphy´s Law passierte dies natürlich an einem Freitag, sodass keine kurzfristige Konsultation des oder eines anderen Neurologen möglich schien. Ich hatte zwar die E-Mail Adresse von Dr. Kloos, sowie seine Erlaubnis selbige bei Bedarf zu nutzen, jedoch war es eine Dienstadresse. Mit einer schnellen Reaktion war also nicht zu rechnen. Blieb mir nur die Möglichkeit selbst zu handeln, indem ich die Medikation eigenmächtig veränderte und zudem zu meiner Mutter zog, um sie über das Wochenende zu betreuen und dabei die Wirkung der modifizierten Medikation zu beobachten. Essen machen, meine Mutter auf Schritt und Tritt begleiten, auf die Toilette, in das und aus dem Bett helfen, den Haushalt schmeißen, einkaufen und nachts auf der Couch übernachten. Das lief so das ganze Wochenende, aber es ging von Stunde zu Stunde etwas besser.

 

Sonntagabends schrieb ich Dr. Kloos ein E-Mail, in dem ich Ausgangssituation und aktuelle Medikation, meine eigenmächtig verordneten Änderungen und die zwischenzeitlich eingetretenen Verbesserungen beschrieb. Seit Freitag hatte meine Mutter das Amatandin wieder genommen. Ich hatte ihr dazu geraten, weil ich mich an ein Gespräch mit dem Hausarzt erinnerte, in dem er erwähnte, dass dieses Medikament manchmal wie ein Turbo auf immobile Patienten wirkte. Zudem hatten wir die Levodopa-Dosis um 25 % gesenkt, d. h. auf die Einnahme einer Tablette am Tag verzichtet.

 

Die Antwort auf die Mail kam recht schnell. Montagnachmittags hatten wir die Bestätigung, die reduzierte Medikation vorerst beizubehalten und einen Termin in der Ambulanz am kommenden Donnerstag. Glücklicherweise war meine Mutter wieder soweit mobil, dass wir den Weg (mittels eines Aufzug) in den Keller, von dort in die Tiefgarage (über zwei fiese Treppenstufen) und den Einstieg in das Auto schafften. Hand in Hand spazierten wir durch den langen Flur des Krankenhauses zur neurologischen Ambulanz, meldeten uns an, absolvierten unsere erfreulich kurze Wartezeit und diskutierten kurz darauf mit Dr. Kloos die Situation. Das Amantandin schien meiner Mutter gut zu tun und sollte daher wieder in die verordnete Medikation aufgenommen werden. Aber Mariannes Mobilität war gegenüber unserem ersten Besuch nicht besser, sondern eher schlechter. Aber das Ziel war ja die Mobilität zu verbessern. Also, so diagnostizierte Dr. Kloos, musste die tägliche Dosis erhöht werden. Um dies zu erreichen, wechselte Dr. Kloos das Medikament, da Levodopa nur in einer doppelten Dosis pro Tablette verfügbar wäre. Eine vermutlich zu hohe Steigerung. Ein Verzicht durch einen reduzierten Einnahmerhythmus kam nicht infrage, weil der Wirkstoff im Körper schnell abgebaut wird und dann durch eine erneute Einnahme wieder aufgebaut werden muss. Dr. Kloos entschied sich für ein 3-Komponentenmedikament BCE, welches besser dosierbar war. Levodopa sollte nur noch zur Nacht in Retard Form, d.h. mit einer verzögerten Abgabe und damit einhergehendem verzögertem Abbau des Wirkstoffes eingenommen werden.

 

Ausgestattet mit neuen Rezepten und einem neuen Termin, diesmal in ca. sechs Wochen verließen wir die Ambulanz, Ich brachte meine Mutter zum Wagen, half beim Einsteigen und bat sie dort ein Viertelstündchen zu warten, in denen ich die Rezepte in die Apotheke brachte und bei ihrem Hausarzt den Medikamentenplan anpassen ließ. Sowohl die Apotheke als auch die Arztpraxis befanden sich in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses. Insofern klappe alles schnell und problemlos.

 

Doch bereits drei Tage später verschlechterte sich Mariannes Zustand wieder. Weitere drei Tage später war ich wieder bei ihr eingezogen. Natürlich wieder zum Wochenende. Wieder gingen wir auf Levodopa zurück und wieder schrieb ich eine Mail an den Neurologen. Die Reaktion kam wiederum schnell, diesmal allerdings telefonisch, Ich schilderte den Hergang und Dr. Kloos bot an meine Mutter stationär in der Neurologie aufzunehmen, um sie dort medikamentös besser einstellen zu können. Leider hatte die Station im Moment aber kein freies Bett, sodass er mich auf das Ende der Woche vertröstete.

 

Da Marianne sich kaum bewegen konnte, konnte sie sich natürlich auch nicht mit Essen und Trinken versorgen. Da wir nicht wussten, wie lange der Zustand der stark eingeschränkten Mobilität anhalten würde, suchten wir nach Lösungen, die meine permanente Anwesenheit in ihrer Wohnung obsolet machen könnte. Das sofortige Engagement einer 24-Stunden-Kraft aus Polen schien noch keine Option. Erstens stand ja ein Krankenhausaufenthalt für die stationäre Einstellung der Parkinsonmedikation an und zweitens hatten wir natürlich die Hoffnung, dass nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus Marianne´s Mobilität wieder deutlich besser wäre und sie dann, wie noch vor einigen Wochen, wieder weitgehend allein zu Recht käme.

 

Über eine Bekannte hatten wir erfahren, dass eine private Pflegerin, Fr. Bach, die jeden Morgen eine Nachbarin meiner Mutter versorgte, offenbar noch freie Kapazitäten hätte. Die Bekannte hatte uns die Telefonnummer der Pflegerin besorgt und ich hatte bereits am Wochenende einen Gesprächstermin für den Montagabend ausgemacht. In dem Gespräch wurden wir uns schnell einig. Wir wollten es wie folgt miteinander versuchen. Fr. Bach sollte künftig morgens für eine Stunde zu meiner Mutter kommen, um ihr beim Aufstehen, waschen ankleiden zu helfen und ihr das Frühstück machen. Mittags sollte sie Marianne ein einfaches Mittagessen zubereiten und am Abend einen Abendimbiss zaubern, sowie Marianne helfen, sich auszukleiden und zum Schlafen vorzubereiten. Die Aktivitäten von Fr. Bach sollten schon am übernächsten Tag, also donnerstagmorgens, beginnen. Wie aber schon erwähnt, sollte es dazu nicht mehr kommen.

 

Nachdem die veränderte Medikation, bereits wieder eine geringe Verbesserung der Mobilität gebracht hatte, die es Marianne, wenn auch mit großer Mühe und minimaler Geschwindigkeit erlaubte, aufzustehen und mittels ihres Rollators zu gehen, hatten wir uns entschieden, meine Anwesenheit in ihrer Wohnung zu reduzieren. Ich fuhr am Montagabend gegen 21:00 Uhr, nachdem Marianne mit allem versorgt und im Bett war, nach Hause und kam am folgenden Morgen gegen 7:00 Uhr zurück, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Dienstagabend verließ ich sie gegen 20:00 Uhr mit allem versorgt, aber noch im Sessel vor dem Fernseher sitzend. Sie wollte es allein in das Bett schaffen. Das hat aber so leider nicht geklappt. Das war die Nacht des Sturzes.