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Fatebug - Tödliches Netzwerk 65

 

65.

 

 

 

Der Saal drohte aus den Fugen zu platzen. Alle Plätze waren besetzt, weitere Menschen standen an den Wänden und in den Gängen. Selbst vor dem Eingang stand noch eine riesige Menschentraube. Auf dem Gang gab es kein Durchkommen.

 

Sie betraten pünktlich den Saal, begrüßt von einem Blitzlichtgewitter und heftigem Gemurmel. Dr. Paulsen übernahm als Gastgeber die Begrüßung, stellte die auf dem Podium sitzenden Beamten vor und übergab das Wort dann gleich an die Oberstaatsanwältin.

 

Das war so abgesprochen. Überhaupt sollte es vornehmlich Frau Dr. Förster sein, die zu den Journalisten sprach. Das Podium war zwar voll besetzt, aber für die meisten galt Schweigepflicht. Insbesondere für Hauptkommissar Strecker. Kriminalrat Brandt hatte es ihm gegenüber ganz klar formuliert: „Präsenz zeigen, Klappe halten“.

 

Die Oberstaatsanwältin begrüßte ihrerseits die Journalisten, bat darum, mit Fragen zu warten, bis sie mit ihren Ausführungen zu Ende war und begann ihren Bericht:

 

Am 07.11, 14.11 und 15.11. wurden in Köln, Bonn und Hamburg Leichen gefunden, sterbliche Überreste von zwei Männern und einer Frau, die auf bestialische Weise ermordet wurden. Die übereinstimmende Vorgehensweise des Täters ließ unsere Behörden schnell erkennen, dass es einen Zusammenhang zwischen den Verbrechen geben muss. Es handelte sich höchstwahrscheinlich um den gleichen Täter. Weitere Zusammenhänge und Parallelen sind vorerst nicht zu erkennen. Die Opfer lebten in unterschiedlichen Verhältnissen, an unterschiedlichen Orten und scheinen sich, und davon gehen wir auch heute noch aus, nicht zu kennen.

 

Bei der Suche nach potentiellen Gemeinsamkeiten stießen wir am 16.11. auf einen gleichartigen Kommentar auf den Fatelogseiten des Kölner und des Bonner Opfers. Trotzdem ein derartiger Kommentar auf der Fatelogseite des Hamburger Opfers nicht vorhanden war, verstärkte sich die Vermutung, dass die Aktivitäten der Opfer in den sozialen Netzwerken möglicherweise ein Motiv für den Täter sein könnte. Alle Opfer hatten in der Vergangenheit Posts veröffentlicht, die im Zusammenhang mit späteren Tötungsdelikten bzw. Selbstmorden standen.

 

Wir haben uns unverzüglich an Fatelog gewandt um die verfügbaren Daten zu den betroffenen Accounts, der der Opfer und des Nutzers mit dem Namen „Fatebug“ zur Verfügung gestellt zu bekommen. Obwohl wir uns exakt an den seitens des Unternehmens vorgegeben Weg hielten und zudem noch auf weiteren informellen Wegen über die deutsche Geschäftsführung und weitere Interessenvertreter des Unternehmens tätig geworden sind, sind die Anfragen bis heute noch nicht beantwortet. Zudem hatten wir das Unternehmen gebeten zu prüfen, ob auch das Hamburger Opfer einen entsprechenden Droh- oder Warnkommentar bekommen hat, der zwischenzeitlich gelöscht wurde. Außerdem hatten wir beantragt, dass Fatelog die Daten aller Nutzer darauf hin untersucht, ob sie ähnlich Kommentare vom Nutzer „Fatebug“ enthielten. Alle diese Anfragen sind bis heute nicht beantwortet oder umgesetzt. Es ist uns lediglich gelungen, die sicher auch ihnen bekannten Videos von den Mordtaten von den Accounts der Opfer löschen zu lassen. Auch über den Stand unserer Anfragen haben wir keine Informationen, wissen also nicht wann bzw. ob sie beantwortet werden oder was wir noch tun könnten, um die Bearbeitung zu ermöglichen. Weitere Mittel stehen uns nicht zur Verfügung. Eine Kontaktaufnahme mit Verantwortlichen für das Europageschäft, welche uns die deutschen Vertreter anheim gelegt hatten, ist bis jetzt, trotz Unterstützung des Innenministeriums und der Bundesanwaltschaft, nicht erfolgreich möglich gewesen.

 

Wir gehen davon aus, dass alle Fatelognutzer, die einen Kommentar des Nutzers „Fatebug“ bekommen haben, gefährdet sein könnten. Daher bitten wir die Nutzer, sich in einem solchen Fall bei uns zu melden.

 

Die Presse bitten wir, diesen Aufruf zu drucken bzw. zu senden. Die Kontaktadresse ist hinter uns eingeblendet und auf den Handouts abgedruckt, die für sie im Foyer bereit liegen. Die Meldungen gehen an die Sonderkommission, die aus Mitarbeitern der regionalen Polizeibehörden der Tatorte, den zuständigen Landeskriminalämtern und dem BKA, sowie der zuständigen Staatsanwaltschaften und der Bundesanwaltschaft besteht. Wie sie sehen, nehmen wir die Bedrohung sehr ernst und raten allen Betroffenen, sich umgehend zu melden.

 

Soweit der Überblick, wir stehen ihnen nun gleich für Fragen gerne zur Verfügung. Ich kann mir vorstellen, dass es noch viele Fragen gibt und bitte sie, per Handzeichen zu signalisieren, wenn sie eine Frage haben. Wir werden dann versuchen, die Fragen sukzessive zu beantworten. Bitte sehr“.

 

Sofort gingen zahllose Hände in die Höhe. Durch einen kurzen Blickkontakt stimmten Kriminalrat Paulsen und die Oberstaatsanwältin ab, dass sie die Sitzungsleitung behalten sollte, worauf sie den ersten Fragesteller aussuchte.

 

Ladies first“, sagte sie mit einem Lächeln und deutete mit ihrer rechten Hand auf eine Reporterin in der zweiten Reihe.

 

Beate Klein vom Hamburger Abendblatt“ stellte diese sich zuerst vor und formulierte dann ihre Frage: „Wie groß schätzen sie die Gefahr für weitere Morde ein?“.

 

Das ist eine Frage, die wir natürlich derzeit nicht konkret beantworten können“, erwiderte die Oberstaatsanwältin. „Einerseits können wir nicht sicher sein, ob auch alle Opfer eine vorherige Warnung bekommen haben. Ich erinnere an das Hamburger Opfer, hier konnten wir keinen derartigen Kommentar finden. Andererseits wissen wir nicht, da unsere diesbezügliche Anfrage nicht beantwortet wurde, wie viele andere Nutzer einen solchen Post bekommen haben. Wir hoffen, dass wir hierzu in den nächsten Tage mehr Klarheit bekommen. Dafür sind wir aber auf die Bereitschaft der betroffenen Nutzer, sich zu melden, angewiesen“.

 

Sie rechnen also nicht damit, dass sie dazu Informationen von Fatelog bekommen?“, fragte die Reporterin nach.

 

Bitte immer nur eine Frage. Da die Frage aber schon im Raum steht, möchte ich sie ausnahmsweise noch beantworten.“ Die Oberstaatsanwältin machte dieses Zugeständnis nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch weil die Frage eine gute Gelegenheit war, Fatelog noch weiter unter Druck zu setzten und zudem stärker in die Verantwortung zu nehmen. Und somit gleichzeitig die Verantwortung der Behörden zu reduzieren. „Unsere bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass wir uns darauf zumindest nicht verlassen dürfen. Ehrlich gesagt, hatten wir schon erwartet, dass unsere Anfragen zügiger beantwortet werden. Zumal wir deutlich gemacht hatten, dass es um nichts weniger als das Leben von Fatelognutzern geht. Aber letztlich wurden wir enttäuscht. Wir mussten erfahren, dass wir als deutsche Behörde keinen Einfluss auf die Bewertung der Anfragen haben. Ob Anfragen wichtig oder begründet sind, entscheidet allein Fatelog. Nach Kriterien und im Rahmen eines Verfahrens das uns nicht transparent ist. Es ist wie bei der sich momentan t in der Diskussion befindlichen Angelegenheit mit den Hassmails. Wir bekommen die für eine Strafverfolgung notwendigen Daten einfach nicht. Fatelog argumentiert mit der den Nutzern gegenüber zugesagten Vertraulichkeit der Daten. Dadurch können die Nutzer unbeschadet aus dem Verborgenen agieren. Und sich relativ sicher sein, nicht identifiziert zu werden. Die Daten liegen formal in den USA, unsere Möglichkeiten zur kontrollierten Aufklärung enden an den Landesgrenzen. Selbst Versuche auf europäischer Ebene voranzukommen, waren nicht erfolgreich“.

 

Kann es sein, dass „Fatebug“ hier etwas erledigt, was die deutschen Behörden nicht schaffen?“. Es war Detlef Schmittke, der Reporter des Rheinischen Anzeigers, der diese Frage unaufgefordert in den Raum rief.

 

Auch auf die Gefahr hin, dass die Veranstaltung außer Kontrolle gerät, möchte ich auch diese Frage noch beantworten. Weil ich mir vorstellen kann, dass sie vielen von ihnen auf der Zunge lag. Und weil wir uns diese Frage natürlich auch gestellt haben.“ „Und weil sie uns sehr gelegen kommt“, dachte Frau Dr. Förster als sie ansetzte, die Frage zu beantworten.

 

Ja, diese Schlussfolgerung drängt sich auf. Die Auswahl der Opfer spricht dafür“. Die Theorie der Ermittler im Hinblick auf die Ausführung der Morde verschwieg sie, auch wenn sie zur Bekräftigung der Aussagen sehr hilfreich gewesen wäre. Zudem verschwieg sie, dass es dem Täter gelungen war, seine Opfer ohne die Hilfe von Fatelog zu finden. Stattdessen ergänzte sie pflichtgemäß: „Ich muss sicherlich nicht betonen, dass wir es hier mit einem kaltblütigen und äußerst brutalen Mörder zu tun haben. Und wir nicht nur deshalb seine Taten und auch seine potentiellen Motive missbilligen“.

 

Haben sie nicht weitere Personen durch ihr Zögern, an die Öffentlichkeit zu gehen, gefährdet?“. Wider kam die Frage per Zwischenruf, aber bevor die Oberstaatsanwältin einen weiteren Versuch zur Erinnerung an die Regeln unternehmen konnte, hatte Kriminalrat Paulsen schon begonnen, zu antworten.

 

Wie die Kollegin schon sagte, hatten wir auf einen anderen Weg vertraut. Als wir erkennen mussten, dass dieser nicht zum Ziel, zumindest nicht schnell genug zum Zielführen würde, haben wir uns entschieden, Details zu veröffentlichen. Zum Schutz weiterer gefährdeter Personen. Auch wenn dies für die Ermittlungen nicht gerade hilfreich sein dürfte. Lassen Sie mich auch die Gelegenheit nutzen, nochmals an die Fatelognutzer zu appellieren, auf ihren Seiten nach Kommentaren des Nutzers „Fatebug“ zu suchen und sich bei uns zu melden. Im Sinne ihrer eigenen Sicherheit. Es besteht kein Grund zur Panik, es hat seit über einer Woche kein Opfer mehr gegeben, aber der Täter ist noch auf freiem Fuß“.

 

Sie wollen uns erzählen, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem heutigen Termin und der Veröffentlichung der Videos gibt? Kommt ihre Warnung nicht viel zu spät?“. Wieder eine Frage ohne Anmeldung und Aufforderung, aber keines der Podiumsmitglieder mochte noch einen Versuch zur Aufrechterhaltung der Geschäftsordnung wagen. Auch wenn die Frage ein willkommener Anlass dazu gewesen wäre.

 

Vielleicht hat uns die Veröffentlichung der Videos in unseren Absichten bestärkt. Die Vorgehensweise vielleicht auch, das Ganze etwas zu forcieren. Aber es war uns ohnehin bewusst, dass wir kurzfristig an die Öffentlichkeit mussten, wenn Fatelog nicht reagieren würde. Auch auf die Gefahr hin, die Ermittlungen dadurch noch schwieriger zu machen“, sagte Kriminalrat Paulsen.

 

Was können sie uns über die Art und Weise sagen, wie der Täter seine Opfer ermordet hat? Woran sind sie gestorben? Was hat das zu bedeuten? Ingo Ohlert, vom „Focus“ schob der in der ersten Reihe sitzende Fragesteller noch nach.

 

Bitte haben Sie Verständnis, wenn ich, auch aus Rücksicht auf die Opfer und deren Angehörige, hier keine Einzelheiten berichte“, sagte Hauptkommissar Faber. „Die Art und Weise ist sicher ungewöhnlich. Und neu. Uns ist kein Fall mit einer identischen Vorgehensweise bekannt. Insofern tun wir uns, ehrlich gesagt, auch schwer mit Hypothesen, ob das etwas zu bedeuten hat bzw. was das bedeuten könnte“.

 

Gibt es schon eine heiße Spur oder zumindest erfolgversprechende Ermittlungsansätze?“. Mit dieser Frage eines Reporters aus den hinteren Reihen, die mit dem Hinweis auf ermittlungstaktische Zwänge nicht beantwortet wurde, kehrte die Pressekonferenz in das Fahrwasser der Routine zurück. Zahlreiche noch gestellte und mehr oder weniger beantwortete Fragen beleuchteten noch Details, aber die eigentliche Schlacht war geschlagen. Die Oberstaatsanwältin und der Chef des BKA hielten sich nun auch zurück, war ihre Aufgabe, die Behörden aus der Verantwortung zu nehmen und Fatelog unter Druck zu setzen, doch weitgehend erfüllt. Zwar musste man noch das offizielle Resultat in Form der Veröffentlichungen durch die Medien abwarten, aber für den Moment konnte man zufrieden sein.