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Kapitel 3 - Chirurgie

 

 

 

Sobald ich am Morgen des Unfalls, mittlerweile in der Wohnung eingetroffen, das Wohnzimmer gesehen hatte, wurde mir klar, wie es in etwa gelaufen sein musste. Meine Mutter war vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie hatte weder den Joghurt noch das Obst oder ihre Getränke angerührt, die ich ihr am Vorabend bereitgestellt hatte. Außerdem hatte sie ihre „zur Nacht-Dosis“ der Tabletten nicht genommen. Alles lag noch auf dem Tisch. Sie war wahrscheinlich in ihrem Sessel vor dem Fernseher eingeschlafen, musste dann irgendwann erwacht und beim Versuch den Rollator zu ergreifen gestürzt sein.

 

Ich packte einige Kleidungsstücke zusammen, suchte den aktuellen Medikamentenplan heraus und packte die für den Tag vorgesehenen, bereits vorbereiteten Medikamente ein. Dann machte ich mich zu Fuß auf den Weg in das Krankenhaus. 10 Minuten später, länger benötigt man nicht für den Weg, stand ich am Empfang und fragte nach dem Aufenthaltsort meiner Mutter. Sie war schon auf ein Zimmer in der Orthopädie gebracht worden. 2. Stock Zimmer 218. Im Stationsstützpunkt der Orthopädie erkundigte ich mich nach meiner Mutter und bekam sowohl die Lage ihres Zimmers beschrieben, als auch den Auftrag mit der Versichertenkarte meiner Mutter unverzüglich in der Notaufnahme vorstellig zu werden.

 

Als ich das Zimmer betrat, fand ich Marianne schlafend vor. Daher begann ich damit ihren Spind einzuräumen. Komisch diese Krankenhausspinde. Viel Platz für das Aufhängen von Jacken, Hosen, Mänteln etc., aber mangels vorhandener Bügel nur sehr eingeschränkt nutzbar. Dagegen wenig Platz für die Ablage von T-Shirts, Pullover, Unterwäsche, Handtüchern. Und das meiste davon hoch oben. Kein Problem, ich bin groß und komme, mich ein bisschen reckend, da gut heran. Doch weder meine Mutter noch die meisten Schwestern dürften die dort von mir platzierten Sachen ohne eine Leiter oder ähnliche Hilfsmittel erreichen.

 

Da meine Mutter noch schlief, ging ich in die Notaufnahme und ließ dort die Versichertenkarte registrieren. Anschließend, weil auf dem Weg, zog ich noch am Automaten eine Zugangskarte für die Inbetriebnahme und Abrechnung des Telefon- und Fernsehanschlusses auf dem Zimmer und besorgte am Empfang die Bedienungsanleitung und einen Kopfhörer. Ich ging wieder hoch in die Chirurgie und übergab der im Stationsstützpunkt arbeitenden Schwester den Medikamentenplan, sowie die Tagesdosis von Marianne´s Medikamenten. Zurück im Zimmer weckte ich meine Mutter, da ich neugierig war, was ihr denn nun passiert war. Leider konnte sie mir wenig Neues sagen. Nur das sie gestürzt sei und nun ihr Arm etwas schmerzte. Den Arm hatte man bereits mit einer Schiene versorgt. Marianne wusste weder, was sie für eine Verletzung hatte, noch wie es weitergehen sollte. Verständlich. Es war noch nicht einmal 9:00 Uhr. Also begab ich mich zum Stationsstützpunkt, um mehr zu erfahren, wurde aber an die Ärzte verwiesen. Doch ein Arzt war auf der Station nicht zu sehen. „Nein, derzeit ist kein Arzt anwesend, die sind am Operieren“ erfuhr ich von der Schwester auf meine Nachfrage. „Das dürfte noch einige Zeit dauern. Und ihre Mutter soll ja auch noch operiert werden“.

 

Also zurück auf das Zimmer und Warten. Marianne döste, ich las, die Minuten strichen dahin. Gegen 11:00 Uhr kam ein junger Mann mit einer Infusionsflasche. Er schien sehr nervös zu sein und schaffte es erst nach einigen Versuchen den Schlauch an den Zugang zu fummeln. Da es sich nicht um eine übliche Plastikflasche mit Kochsalzlösung handelte, fragte ich nach dem Inhalt und Zweck. „Wegen dem Blut“ war die Antwort des Mannes, die er mir noch zuraunte, bevor er das Zimmer wieder verließ. Der Mann war dem Aussehen nach kein Mitteleuropäer. Ich vermutete das Deutsch nicht seine Heimatsprache war und die Antwort deshalb etwas knapp ausgefallen war. Eine Verfolgung um mehr zu erfahren war somit wahrscheinlich zwecklos.

 

Die nächsten Hinweise auf den Zustand meiner Mutter bekamen wir gegen 11:30 Uhr, als eine junge Dame, ausgestattet mit einem Tabletcomputer das Zimmer betrat und meiner Mutter das Küchenangebot für den nächsten Tag erläuterte, um anschließend ihre Bestellung aufzunehmen. Laut ihrer Information gäbe es aus medizinischer Sicht keine Notwendigkeit zu Einschränkungen in der Ernährung, das hieß, meine Mutter konnte unter allen Angeboten, auch der Vollkost wählen. Die Dame registrierte die Menüauswahl von Marianne auf ihrem Tabletcomputer und verließ den Raum.

 

Gegen 12:30 kamen sowohl eine Dame mit dem Mittagessen als auch der nicht so sprachfreudige Mann in das Krankenzimmer. „Blutabnahme“, erläuterte der Mann meiner Mutter und machte sich am Zugang an ihrem rechten Arm zu schaffen. Leider schien er damit wieder Probleme zu haben. Er schaffte es zwar Blut zu entnehmen, dabei rutschte aber offenbar der Zugang heraus, was einen erheblichen unkontrollierten Blutaustritt zur Folge hatte. Der junge Assistenzarzt, als solchen hatte ich ihn mittlerweile durch einen Blick auf sein Schild an der linken Brusttasche identifiziert, verließ eilig das Zimmer, um kurz darauf mit Verbandsmaterial und einer Schwester im Schlepptau zurückzukehren. Nachdem sie in gemeinsamer Anstrengung die Blutung gestoppt hatten, wechselte die Schwester die Bettwäsche. Während dessen erkaltete natürlich das Mittagessen, das die junge Dame vorhin wortlos auf dem Nachttisch abgestellt hatte. Meine Mutter, die allerdings schon seit längerem über wenig Appetit verfügte, pickte noch etwas lustlos in dem Essen herum, bevor es kurz darauf auch schon wieder abgeholt wurde. Den Joghurt und den Keks, letzteren für mich, rettete ich noch in den Nachmittag.

 

Kurz nach 13:00 Uhr kam meine Frau, Sarah vorbei. Sie hatte für mich vom Mittagsbuffet ihrer Arbeitsstätte einige Muffins mitgebracht, die ich gierig hinunterschlang. Das Frühstück war bei dem plötzlichen Aufbruch am Morgen natürlich ausgefallen, ein Mittagessen für die Besucher war nicht vorgesehen und in die Cafeteria hatte ich mich nicht getraut, da ich es nicht riskieren wollte, den Arzt und somit die Gelegenheit zu einem aufklärenden Gespräch zu verpassen. Kurz nachdem Sarah wieder zur Arbeit gefahren war, öffnete sich die Tür und eine junge Frau, die sich als für die Station zuständige Assistenzärztin vorstellte, kam in das Zimmer. Nun, es war mittlerweile 14:00 Uhr, erfuhren wir näheres.

 

Bei ihrem Sturz war meiner Mutter ein Knochenstück am linken Ellbogen abgesprungen, was noch als Splitter im verletzten Gewebe steckte. Dieses Knochenstück wolle man operativ wieder am Knochen befestigen, was noch am gleichen Tag geschehen sollte. Die Ärztin erläuterte die für die Operation vorgesehene Methodik anhand eines 4 seitigen Dokumentes, dessen Kopie meine Mutter als Bestätigung für die erhaltene Aufklärung unterschreiben musste. Die OP sollte nicht unter Vollnarkose durchgeführt werden. Das war für Marianne anfänglich belastend, jedoch konnten die Ärztin und ich sie schließlich beruhigen und überzeugen, dass sie keine Schmerzen haben würde und auch nicht würde zuschauen müssen. Vor der OP und dafür war die bereits verabreichte Infusion vorgesehen, müsse aber noch das Blut meiner Mutter „verdickt“ werden, damit sie, als Marcumarpatientin, bei der OP nicht zu stark blutete. Die bereits zur Überprüfung erfolgte Blutabnahme habe aber nicht das gewünschte Ergebnis gezeigt, sodass man sowohl eine weitere Infusion verabreichen, als auch eine weitere Blutabnahme durchführen müsse. Nur hatte meine Mutter seit der Blutabnahme am Mittag ja keinen Zugang mehr. Als ich die Ärztin darauf aufmerksam machte, verließ sie den Raum und kam kurz darauf mit den für den Zugang nötigen Utensilien zurück. Doch trotz offensichtlich geschickter Handhabung des Werkzeuges schaffte sie es nicht, einen neuen Zugang zu legen. Das war offenbar in Anbetracht der physiologischen Voraussetzungen bei meiner Mutter ein Problem. Die Ärztin, Frau Dr. Maternus, holte noch den jungen Assistenzarzt zu Hilfe, ob zum Assistieren oder ihm zu demonstrieren, was er mit der Zerstörung des ersten Zugangs für Probleme verursacht hatte, bleibt dahingestellt. Das Ergebnis: mangels Zugang wurde Marianne das gerinnungsfördernde Mittel letztlich per Injektion verabreicht. Der Assistenzarzt brachte daher zur Blutentnahme am späteren Nachmittag sowohl Verbandsmaterial als auch eine Schwester vorsichtshalber gleich mit.

 

Der Nachmittag verging mit Kuchen, den ich noch in der Cafeteria besorgt hatte und einem seitens einer Schwester unterstützten Toilettengang mit Warten bis ca. 15:30 Uhr der stellvertretende Chefarzt der Chirurgie, Dr. Hansen, vorbeikam. Er erkundigte sich nach dem Befinden meiner Mutter und erläuterte uns noch einmal, dass der erste Test in Bezug auf die Gerinnungsfähigkeit nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hatte, weshalb man nochmals verdicken und testen musste. Während man beim ersten Versuch einen Schnelltest direkt im Hause gemacht hatte, hatte man die zweite Probe in das Labor des Krankenhauses von Bochum gebracht, wo man bessere Analysemöglichkeiten hätte. Auf dieses Ergebnis würde man nun warten. Ich nutzte die Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass meine Mutter Parkinson-Patientin war und mit Dr. Kloos eigentlich eine stationäre Aufnahme für das Ende der Woche auf der Neurologie verabredet war. Dr. Hansen bejahte meinen Vorschlag, die Neurologen sobald als möglich mit hinzuziehen und versprach, sich darum zu kümmern.

 

Um 17:30 Uhr sollte es dann losgehen. Der junge Assistenzarzt und ein Pfleger kamen herein, um meine Mutter abzuholen. Erschreckt stellte er fest, besser er erinnerte sich, dass meine Mutter ja keinen Zugang mehr hatte. Er bat den Pfleger Frau Dr. Maternus hinzuzuholen. Die Ärzte berieten sich kurz, kamen zu dem Ergebnis vor Ort nichts mehr unternehmen zu wollen und verließen mit dem Hinweis, dass die Anästhesisten in Bezug auf den Zugang mehr Erfahrung und Möglichkeiten haben sollten, den Raum. Der Pfleger schob das Bett meiner Mutter Richtung Operationssaal und ich ging in ihre Wohnung, um während der OP noch einige Dinge zu regeln bzw. zu holen.

 

Nach gut 90 Minuten war ich zurück im Krankenhaus. Marianne war noch nicht wieder auf dem Zimmer. Sie war offenbar noch im OP. Aber ich brauchte nicht lange zu warten. Kaum hatte ich die restlichen Sachen in den Spind geräumt und wollte anfangen zu lesen, als man sie in das Zimmer zurückbrachte. Sie war noch nicht aufgewacht. Ich erkundigte mich im Stationsstützpunkt nach dem Verlauf der OP und bekam mitgeteilt, dass es keine besonderen Instruktionen gab. Das wertete die Schwester als Indiz, dass alles planmäßig verlaufen wäre. Genaueres könne ich morgen von den Ärzten erfahren.„Wann wäre denn ein geeigneter Zeitpunkt oder eine Sprechstunde?“ fragte ich.

 

Eine Sprechstunde gibt es nicht und wann die Ärzte auf der Station sein würden“ könne sie auch nicht sagen.„Wann ist denn die Visite?“ fragte ich schließlich. „Üblicherweise zwischen 7:00 und 8:00 Uhr, das Zimmer ihrer Mutter ist am Ende des Ganges, also bei ihr eher gegen 8:00 Uhr“. Ich bat die Schwester, meine Mutter von mir zu grüßen und ihr mitzuteilen, dass ich sie nicht habe wecken wollen und deshalb nach Hause gefahren wäre. Es war gegen 20:30 Uhr, das hieß nach ca. 13 Stunden verließ ich das Krankenhaus, um in gut 10 Stunden wieder vor Ort zu sein.

 

Donnerstagmorgens, noch vor 7:00 Uhr war ich wieder im Krankenhaus. Zu früh? Wahrscheinlich ja aber ich wollte meine Chance auf keinen Fall verpassen. Meine Mutter sah ziemlich mitgenommen aus. Meine Frage, ob sie Schmerzen hätte, konnte sie offenbar gar nicht beantworten. Ich holte mir einen Kaffee und wartete, mich mit einem Buch ablenkend, auf die Visite. Schon kurze Zeit später, es war gerade 7:20 Uhr kam die Visite.

 

Die OP war planmäßig verlaufen. In ca. 5 Tagen, also zum Beginn der nächsten Woche würden die Drähte mittels derer das abgebrochene Knochenstück wieder fixiert wurde entfernt. Danach könne meine Mutter entlassen werden. Ich wies darauf hin, dass ich, bevor meine Mutter nach Hause zurückkehrt, gewisse Vorkehrungen treffen müsste, da sie wegen ihrer Parkinson-Symptome nicht allein leben könne. Dafür würde ich mindestens fünf Tage benötigen. „Bezüglich des neurologischen Zustandes kann ich nichts sagen“, sagte Dr. Hansen, und bemerkte anschließend, dass er die Neurologie kontaktiert hätte und sich ein Kollege meine Mutter ja zeitnah ansehen würde.

 

Ich blieb noch zu Frühstück und versuchte Marianne zu motivieren, wenigstens ein wenig zu essen. Mit mäßigem Erfolg. Frustriert verließ ich das Krankenhaus und fuhr nach Hause um für die Zeit nach ihrer Rückkehr eine Pflegekraft zu organisieren. Per Mail sandte ich eine Anfrage an Frau Kolinek, die Inhaberin einer Vermittlungsagentur für polnische 24-Stunden-Pflegekräfte. Den Kontakt zu und den Kontrakt mit Frau Kolinek hatte ich bereits im letzten Jahr gemacht, als Marianne bereits einmal entsprechende Unterstützung benötigte. Natürlich auch dazu später mehr. Ich schilderte Frau Kolinek die Verfassung meiner Mutter und informierte sie auch über die unklaren Rahmenbedingungen bzgl. der Dringlichkeit beziehungsweise des Startzeitpunktes für den Beginn der Pflege. Frau Kolinek sagte zu, mir bald möglichst einige Vorschläge für infrage kommende Pflegerinnen zu machen.

 

Kurze Zeit später klingelte mein Telefon. Meine Mutter war am Apparat. Es schien ihr besser zu gehen, jedenfalls warf sie mir energisch vor, ihr keine geeignete Kleidung in das Krankenhaus gebracht zu haben. Meine Entgegnung ich hätte doch etliche T-Shirts, Pullover, Unterwäsche etc. im Schrank deponiert, konterte sie mit dem Satz: „Da ist nichts“. Und ich solle auch gleich noch einige T-Shirts von mir mitbringen, weil sie mit dem verbundenen Arm, laut Aussage einer Schwester, diese leichter würde anziehen können. Da ich nicht schon wieder die mehr als 30 km in das Krankenhaus fahren wollte, vertröstete ich meine Mutter auf den Folgetag, heute müsse sie mit den Sachen zurechtkommen, die vor Ort wären. Ich beendete das Gespräch, erledigte einige weitere Telefonate mit Personen, die mit meiner Mutter häufiger telefonierten und informierte sie über die Situation, damit sie sich keine unnötigen Sorgen machten, wenn sie meine Mutter nicht erreichen würden. Dann sagte ich noch der Putzhilfe und der Friseuse, mit denen noch Termine für die laufende Woche verabredet waren, telefonisch ab.

 

Mein erstes Ziel am Freitag war natürlich wieder das Krankenhaus. Wegen, der am Krankenhaus häufig kritischen, Parkplatzsituation fuhr ich zur Wohnung meiner Mutter und nutzte die dort vorhandene Tiefgarage. In ihrer Wohnung suchte ich noch ein bis zwei Kleidungsstücke heraus und packte diese zu meinen bereits in der Reisetasche befindlichen T-Shirts. Anschließend machte ich mich zu Fuß auf den Weg in das Krankenhaus. Ich wollte noch früh genug vor Ort sein, um Marianne beim Frühstück zum Essen zu motivieren. Es ging ihr heute offenbar etwas besser, denn nach einer kurzen Begrüßung erneuerte sie gleich die Vorwürfe bzgl. der fehlenden Kleidung. Auch als ich den Inhalt des oberen Spindfachs auf ihrer Bettdecke ausbreitete, besserte sich ihre Stimmung nicht wesentlich. Wie vermutet hatte die Schwester nicht im obersten Spindfach nachgesehen, wahrscheinlich hatte sie aufgrund ihrer Körpergröße auch gar keine Chance gehabt, dort hineinzusehen, geschweige denn dort befindliche Kleidungsstücke herauszunehmen. Ich räumte alles wieder ein, inkl. der neu mitgebrachten Pullover und meiner T-Shirts. Auf diese und ihren Platz im Spind machte ich meine Mutter besonders aufmerksam und bat sie, der Schwester mitzuteilen, dass die verlangten Kleidungsstücke dort deponiert waren.

 

Weder längeres Warten noch zahlreiche Besuche im Stationsstützpunkt bzw. in den Arztzimmern verschafften mir einen weiteren Kontakt mit einem behandelnden Arzt. Gegen Mittag kehrte ich zur Wohnung meiner Mutter zurück, um meine Mails zu lesen. Schließlich konnte es noch immer sein, dass Marianne schon zu Beginn der nächsten Woche entlassen würde. Daher wartete ich ungeduldig auf Vorschläge zu Pflegehilfen von Frau Kolinek. Aber noch war nichts eingetroffen.

 

Also zurück in das Krankenhaus. Neben den Genesungsfortschritten meiner Mutter war die Unsicherheit über den voraussichtlichen Entlassungstermin meine Hauptsorge. Also wieder, weil Sprechstunden gab es ja nicht, auf dem Zimmer und dem Flur herum lungern und durch zahllose Besuche im Stationsstützpunkt bzw. den Arztdiensträumen sein Glück versuchen. Aber auch hier kein Erfolg. Ein weiterer verzweifelter Versuch, es war mittlerweile der späte Freitagnachmittag, im Stationsstützpunkt brachte zumindest insoweit Klarheit, das ich heute nichts mehr erfahren würde. Morgen und übermorgen aber auch nicht; dann war ja Wochenende. Und wann hätte ich am Montag eine Chance? Das konnte man mir nicht sagen. Das Beste, so wurde ich informiert, wäre zu versuchen, die Ärzte telefonisch zu kontaktieren. Dazu bräuchte ich nur im Stützpunkt anrufen, dann würde die Besetzung versuchen, mich zu den Ärzten durchzustellen. Zumindest schien das eine Möglichkeit, aber angesichts der Möglichkeit, dass Marianne gegebenenfalls bereits zu Anfang der Folgewoche entlassen werden könnte, war die Information, in Anbetracht des dort mengenmäßig enthaltenen Konjunktivs, nicht gerade beruhigend.

 

Als ich am späten Nachmittag meine Mails abarbeitete, hatte sich zumindest Frau Kolinek gemeldet. Beiliegend zu ihrer Mail fanden sich vier Profile von potentiellen Kandidatinnen. Ich studierte die Profile kurz und gab Frau Kolinek noch am späten Nachmittag meine Präferenzen durch. Nur wenige Minuten später traf schon die Antwort ein. Sie würde mit der bevorzugten Kandidatin Kontakt aufnehmen und sich sobald als möglich bei mir melden. Voraussichtlich würde sich auch dieser Vorgang frühestens zu Beginn der nächsten Woche weiter entwickeln.

 

Das Wochenende verlief wie erwartet. Ich fuhr täglich in das Krankenhaus, wobei ich versuchte, den Besuch so zu timen, dass ich Marianne motivieren konnte, möglichst viel vom Mittagessen zu sich zu nehmen und ihr für den Nachmittag noch ein Stück Kuchen als Aufgabe hinstellen konnte. Ansonsten tat sich nichts. Keine Behandlung, vom täglichen Fieber- und Blutdruckmessen und der Medikamenteneinnahme mal abgesehen. Schmerzen hatte Marianne keine, dafür sorgte schon die übliche und seit Jahren angewandte Schmerzmedikation gegen ihre Wirbelbrüche. Nur ihre Mobilität war nach wie vor schlichtweg nicht gegeben. Ja, ein Neurologe hatte sie zweimal untersucht und Medikamente verordnet, aber besser geworden schien mir ihr Zustand nicht. Im Gegenteil. Marianne war häufig apathisch und schlief fast ausnahmslos, selbstständig essen konnte sie wegen starkem Zittern nur schwerlich, an Gehen war gar nicht zu denken. Sie konnte sich noch nicht einmal im Bett aufrichten bzw. sich nach oben bewegen. Dabei mussten ihr die Schwestern helfen. Wenn ich da war, packte ich sie vorsichtig unter den Schultern und wuchtete sie nach oben. Was kein Problem war, da sie nur noch sehr wenig wog.

 

Montagmorgens, pünktlich um 10:00 Uhr, wie mit der Schwester am Freitag verabredet, rief ich im Stationsstützpunkt an. Ja, ich musste dafür die eigentlich wichtige Telefonkonferenz mit meinen Kollegen vorzeitig verlassen, aber man muss ja Prioritäten setzen. Nach ca. fünf Versuchen und mindestens ebenso vielen Minuten hob jemand ab. „Nein“, so die Antwort, „im Moment wäre kein Arzt verfügbar. Die sind alle noch im OP. Versuchen Sie es doch später einfach nochmal“. „Wann wäre denn ein sinnvolles später“, fragte ich sicherheitshalber nochmals nach.„Na so gegen 10:30 Uhr müsste eigentlich jemand da sein“. Also sich bedanken, verabschieden und zurück in die Telefonkonferenz. Sicherheitshalber wartete ich bis ca. 10:45 Uhr, dann verabschiedete ich mich wieder aus der Konferenz. Diesmal hatte ich Glück. Aber nur insofern, als das ich beim ersten Versuch Anschluss bekam. Die Nachricht kam schneller, war aber nicht besser. „Nein, es ist kein Arzt erreichbar. Das wäre aber auch nicht zu erwarten. Montags dauert es im OP üblicherweise immer länger. Versuchen Sie es doch nochmals um 11:30 Uhr“. Um 11:30 Uhr war zumindest meine Telefonkonferenz beendet. Und glücklicherweise bekam ich seitens der am anderen Ende der Leitung sprechenden Schwester mitgeteilt, dass sie versuchen würde, mich mit der Ärztin verbinden. Und das sogar erfolgreich, da sich kurz darauf Frau Dr. Maternus meldete. „Leider bin ich gerade im Gespräch“, teilte sie mir mit, aber sie würde mich gerne in einigen Minuten zurückrufen. „Ja, meine Nummer ist im Stationsstützpunkt hinterlegt“, antwortete ich ihr auf ihre Frage nach meiner Telefonnummer. Ob es drei oder vier Kunden oder Kollegen waren, die ich mit der Lüge „ich bin gerade im Gespräch, ruf aber später zurück“ konfrontierte, weil ich die Leitung für den Rückruf der Ärztin frei halten wollte, weiß ich nicht mehr so genau. Aber entscheidend war für mich seinerzeit, dass ich endlich eine Gelegenheit bekam, mit einem behandelnden Arzt über den wahrscheinlichen Entlassungstermins zu sprechen. Nachdem ich mich nach ihrer Einschätzung hinsichtlich des Zustandes meiner Mutter erkundigt hatte, schilderte ich Frau Dr. Maternus das Problem bzgl. einer angemessenen Betreuung meiner Mutter nach ihrer Entlassung. Wir kamen überein, dass meine Mutter frühestens am Freitag entlassen werden sollte, damit ich noch Zeit oder zumindest eine Chance hatte, eine Betreuung zu organisieren. Zum Abschluss verabredeten wir einen erneuten Telefontermin für kommenden Mittwoch 11:30 Uhr.

 

Danach hatte ich die Gelegenheit noch ein wenig zu arbeiten, bevor es wieder zum Krankenhaus ging. Ach ja, vielleicht zur Einordnung ein paar Worte zu der beruflichen Situation von mir und meiner Frau. Wir arbeiten beide in, wenn auch in unterschiedlichen IT- Firmen als Projektmanager. Das bedeutet neben der Tatsache, dass eine 40-Stunden-Woche in der Regel bei weitem nicht ausreicht, auch viele feste regelmäßig wahrzunehmende Termine, sowie häufig unerwartet auftauchende Probleme, auf die möglichst verzögerungsfrei reagiert werden muss. Mobilität, also viele, auch kurzfristig erforderliche, Dienstreisen gehört eigentlich auch dazu. Also nahezu ideale Rahmenbedingungen für die intensive Betreuung von hilfebedürftigen Angehörigen. Doch zurück zum Wesentlichen.

 

Der Zustand meiner Mutter war wenig erfreulich. Sie wirkte nach wie vor häufig apathisch, aß kaum und konnte sich kaum bewegen. Ich erkundigte mich bei einer Schwester, ob sie meine Besorgnis teilte und ob die Apathie meiner Mutter quasi ein Dauerzustand wäre. Im Wesentlichen bestätigte die Schwester meine Beobachtungen, verwies mich aber für nähere Auskünfte an die behandelnden Ärzte.

 

Wer waren denn eigentlich die behandelnden Ärzte? Frau Dr. Maternus hatte ich ja bereits persönlich kennengelernt. Dann hatte ich während der Visite am vergangenen Donnerstag Dr. Hansen und Dr. Andresen getroffen, die ich bereits von früher kannte. Doch dazu später mehr. Aber auf der Station gesehen, hatte ich sie seitdem nicht mehr. Und dann war da natürlich noch der Assistenzarzt, der die erste Infusion am Mittwoch verabreicht hatte. Einen Neurologen sollte es ja auch noch geben. Von ihm hatte ich bisher aber weder etwas gehört, noch gesehen.

 

Ich blieb noch bis zum Abendessen im Krankenhaus, konnte meine Mutter aber nicht motivieren, nennenswerte Mengen zu essen. Die Brote hatte ich ihr belegt und in sehr kleine Stücke geschnitten. Doch sie zitterte stark und hatte Probleme die Bissen in den Mund zu führen. Zudem schien ihr das Kauen Problem zu machen. Meine Vermutung war, dass ihr Gebiss als Folge des Gewichtsverlustes nicht mehr passte. Also konzentrierten wir uns auf die rindenfreien Innenstücke der Brote. Aber viel erreichten wir nicht.

 

Am Abend, wieder zu Hause, hatte ich Nachricht von Frau Kolinek. Gespannt öffnete ich ihre Mail. Die von uns favorisierte Pflegerin könnte, so ihre Nachricht, erst in ca. 10 Tagen beginnen, aber die von uns als zweitbeste Lösung eingeschätzte Dame könnte gegen Ende der Woche beginnen. Ich antwortete sofort und bat Frau Kolinek mit Dame Nummer zwei eine Arbeitsaufnahme zum nächsten Wochenende zu verabreden.

 

Als ich am Dienstag im Krankenhaus eintraf und die Schwestern im Stationsstützpunkt begrüßte, wurde mir mitgeteilt, ich sollte Kontakt mit dem Sozialdienst des Krankenhauses aufnehmen. Auf Nachfrage nannte man mir die Telefonnummer. Der Zustand meiner Mutter hatte sich nicht gebessert. Das sah man auf den ersten Blick. Sie konnte immer noch nicht alleine aufstehen.

 

Ich verbrachte einige Zeit lesend auf dem Krankenzimmer, immer wieder unterbrochen von Versuchen, den sozialen Dienst telefonisch zu erreichen. Zwar hatte ich bereits beim zweiten Mal eine Bitte um Rückruf auf dem Band hinterlassen, aber ich wollte nichts unversucht lassen. Nach einiger Zeit signalisierte meine Mutter mir, dass sie zur Toilette müsste. Ich betätigte den Schwesternruf und wartete. Nachdem sich ca. 15 Minuten später noch immer nichts bewegt hatte, ging ich zum Stationsstützpunkt. Die dort anwesenden Pflegerinnen waren einerseits mit dem Vorbereiten von Medikamenten und andererseits mit Arbeiten am Computer beschäftigt. Ich entschuldigte mich und wies auf das Problem meiner Mutter hin und bat um Unterstützung. Als ich erwähnte, dass ein längeres Warten das Problem und den Arbeitsaufwand ja nicht kleiner machen würden, entgegnete die am Computer arbeitende Schwester gelassen, dass es nicht eilig sei, da meine Mutter ja bereits Windeln tragen würde.

 

Weil offenbar in der Vergangenheit ein- oder zweimal die Zeit vom Betätigen der Notfallklingel bis zum Erreichen der Toilette nicht gereicht hatte, hatte man meiner Mutter vorsorglich Windeln angezogen. Das konnte ich einerseits nachvollziehen, weil es unnötig Aufwand bzw. Kosten verursacht, ein Krankenbett außerplanmäßig neu zu beziehen. Andererseits war es ja nicht so, dass Marianne ihre Ausscheidungen nicht beherrschen konnte und sich zu spät meldete. Ich kann auch die Belastung und Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte nur durch punktuelle Beobachtungen einschätzen. Es ist ja auch gar kein Drama, wenn es mal nicht mehr zur Toilette reicht. Aber das Rufsignal ermöglicht ja keine differenzierten Signale. Und es mag ja Vorkommnisse geben, bei denen es zu spät ist, wenn die Reaktion des Pflegepersonals erst 20 Minuten nach dem Signal erfolgt. In nahezu allen Lebensbereichen gibt es für Reaktionszeiten Standards bzw. Richtwerte. Gibt es die eigentlich auch im Krankenhaus, wo es durchaus um Menschenleben gehen kann?

 

Die Zeit die eine dann doch noch zur Hilfe geeilte Schwester benötigte, um meiner Mutter zu helfen, wollte ich nutzen, um den Sozialdienst aufzusuchen. Da ein Rückruf bis dato nicht erfolgt war, ging ich in das Büro im Erdgeschoss. Den Standort kannte ich bereits, denn wenn man zur Cafeteria ging, kam man an der Eingangstür des Sozialdienstbüros vorbei. Obwohl ich auf mein Anklopfen keine Antwort erhielt, drückte ich die Türklinke hinunter, öffnete die Tür ein wenig und schob meinen Oberkörper hinein.„Guten Tag“, begrüßte ich die junge Dame am Schreibtisch und betrat das Zimmer. „Entschuldigen Sie die Störung“, fuhr ich fort und stellte mich und mein Anliegen vor.„Ach gut, dass Sie kommen“, entgegnete die Dame. „Ich wollte sie gerade zurückrufen“. Ich denke, sie wollte mir mitteilen, was sie mir nun vis-a-vis berichtete: „Für den meine Mutter betreffenden Vorgang wäre ihre Kollegin, die im Moment nicht im Haus sei, zuständig. Sie käme aber um 13:30 Uhr wieder zurück.“ Ihre Frage, ob ich denn dann noch im Hause wäre, bejahte ich nach einigem Zögern. So lange wollte ich eigentlich nicht bleiben, aber jetzt war es bereits nach 12:00 Uhr und auf die Stunde mehr kam es nun auch nicht mehr an. Trotzdem es ein Dienstag und für mich eigentlich ein Arbeitstag war.„Prima, ich sage meiner Kollegin Bescheid. Es kann allerdings ein paar Minuten später werden, denn sie kommt ja erst um 13:30 Uhr an und braucht dann sicher noch ein paar Minuten zur Kommunikation und für den Weg“. Aber es kam ja nicht mehr darauf an.

 

Zurück im Krankenzimmer unterstützte ich Marianne wie gewohnt beim Mittagessen, mit dem üblichen Ergebnis. Viel Aufwand, wenig Erfolg. Blieb nur auf das Stück Kuchen zu vertrauen, das ich ihr im Anschluss an den Besuch im Büro des Sozialdienstes noch aus der Cafeteria mitgebracht hatte. Annähernd pünktlich, kurz vor 14:00 Uhr betrat die Angestellte des sozialen Dienstes das Zimmer. Nachdem wir uns gegenseitig vorgestellt hatten, wollte sie mich mit den wesentlichen Informationen rund um die Pflege von Angehörigen versorgen. Den Versuch unterband ich sehr schnell, indem ich mich bedankte, gleichzeitig aber darauf hinwies, dass ich mich nunmehr bereits seit mehr als 5 Jahren um Marianne kümmerte, auch eine Pflegestufe bereits vorhanden sei und dies, nach meiner Erinnerung, Mariannes vierter Krankenhausaufenthalt binnen eines Jahres war. Doch auch dazu später mehr.

 

Oh“, dann können sie mir ja gar nicht helfen, entgegnete die Dame und wollte schon gehen. „Eine Sache wäre da noch“, entgegnete ich. „So immobil wie im Moment war meine Mutter zu Hause nicht“. Derzeit würde sie ja offenbar von den Schwestern mithilfe eines fahrbaren Toilettenstuhles in das Bad transportiert. Wenn denn dieser nicht zweckgemäß direkt benutzt würde. Eine solche Transportmöglichkeit hatte meine Mutter, bei allem was bereits vorhanden war (und von dem später natürlich auch berichtet werden wird) noch nicht. Ob sie mir sagen könne, was zu tun wäre, damit ich für meine Mutter rechtzeitig vor ihrer Entlassung ein derartiges Hilfsmittel besorgen könnte. Zudem wäre es hilfreich, für den Fall der Fälle auch Inkontinenzmaterial, also Windeln und Betteinlagen verfügbar zu haben. Die Dame teilte mir mit, dass der Toilettenstuhl durch einen Arzt des Krankenhauses verordnet werden könnte, das Verbrauchmaterial für die Inkontinenz dürfte das Krankenhaus allerdings nicht verordnen. Dazu müsste ich mich an den Hausarzt wenden. Sie versprach, die entsprechende Verordnung für den Toilettenstuhl vorzubereiten und durch den Stationsarzt abzeichnen zu lassen. Dann verabschiedete sie sich.

 

Als ich das Krankenhaus verließ, eine Tüte voll benutzter Wäsche im Gepäck, war es 14:30 Uhr. In puncto Arbeitstag war festzustellen: „Der war eigentlich gelaufen“.

 

Zurück zu Hause, mittlerweile 16:00 Uhr, füllte und startete ich die Waschmaschine. Dann kümmerte ich mich um meine Mails. Erfreulicherweise war auch eine Mail von Frau Kolinek darunter. Sie brachte die erhoffte Bestätigung, dass die gewünschte Pflegerin verfügbar sei und am Samstag anreisen könne. Noch bevor ich mich richtig freuen konnte, klingelte das Telefon. Frau Kolinek hatte schlechte Nachrichten. Die noch soeben zugesagte Pflegerin konnte nun doch nicht kommen. Ihre Mutter hätte sich das Bein gebrochen und die Dame müsste sich nun um ihre eigene Mutter kümmern. Wir müssten von vorne anfangen. Ich würde noch am Abend neue Vorschläge erhalten. Ach ja, zumindest die Waschmaschine lief problemlos durch.

 

Gegen 19:00 Uhr waren die neuen Vorschläge da. Ich entschied mich schnell. Es war Dienstagabend und wir brauchten die Unterstützung ja schon am Samstag. Insofern hatte Frau Kolinek bereits um 19:30 Uhr meine neuen Präferenzen.

 

Am späten Mittwochvormittag rief ich von meiner Arbeitsstätte zur vereinbarten Zeit bei Frau Dr. Maternus an. Ich erreichte sie bereits im zweiten Versuch. Sie bestätigte, dass sie seitens der Kolleginnen vom Sozialdienst eine Verordnung bekommen und diese abgezeichnet hatte. In Bezug auf den Gesundheitszustand meiner Mutter gäbe es keine wesentlichen Neuigkeiten. Der Arm verheile gut und voraussichtlich können Donnerstag bzw. Freitag die Klammern entfernt werden. Damit wäre die chirurgische Behandlung beendet. Wir einigten uns auf den Samstag als Entlassungstermin und beendeten das Gespräch. Am späten Nachmittag machte ich dann noch den obligatorischen Krankenhausbesuch und fuhr dann nach Hause. Und wirklich. Eine Mail von Frau Kolinek mit der guten Nachricht, dass Frau Zofia am Samstag anreisen würde. Sie hatte bereits eine Fahrkarte gekauft und würde am Samstag gegen 10:00 Uhr am Bahnhof in Bochum ankommen. Ich sollte ihr noch Bescheid geben, ob ich die Pflegerin dort abholen könne oder sie mit dem Taxi zur Wohnung meiner Mutter anreisen solle. Die Antwortmail enthielt neben meinem Dank die Entscheidung: „Ich hole sie ab“.

 

Am Donnerstag hatte eigentlich die Beschaffung des Toilettenstuhls Priorität. Dazu musste für die Anlieferung ein Termin vereinbart werden. Also rief ich bei Teich, einem größeren in unserer Gegend beheimateten Sanitätshaus an und fragte, ob die Verordnung bereits vorläge. Nein, eine derartige Verordnung lag dem Sanitätshaus noch nicht vor. Wer selbige ausgestellt hatte, wollte die mich bedienende Dame wissen. Das Krankenhaus in Wattenscheid. Nein, wenn das Krankenhaus eine derartige Verordnung ausgestellt hätte, müsste sie auch schon vorliegen. Ein Mitarbeiter des Sanitätshauses fahre jeden Nachmittag das Krankenhaus an und nehme die vorhandenen Verordnungen mit. Man würde der Sache nochmals unverzüglich nachgehen, aber viel Hoffnung bestünde nicht.

 

Ich rief beim Sozialdienst an. Das Übliche. Der Anrufbeantworter. Nach wiederholten Versuchen ohne Rückruf setzte ich mich sicherheitshalber in mein Auto und fuhr in das Krankenhaus. Notfalls könnte ich dann wieder persönlich beim sozialen Dienst vorsprechen. Und ich wollte ja sowieso noch in der Praxis des Hausarztes meiner Mutter vorbeischauen und das Inkontinenzmaterial verschreiben lassen. Als ich, auf dem Weg zu Fuß in das Krankenhaus, an der Praxis des Hausarztes vorbeikam, traf ich vor der Tür zwei seiner Sprechstundenhilfen. „Ah, welch ein Glück, dass ich sie hier antreffe“, eröffnete ich das Gespräch. „Das erspart mir ja gegebenenfalls einen Besuch am Nachmittag“. Die ältere der beiden Sprechstundenhilfen wies mich bestimmt darauf hin, dass sie und ihre Kollegin schon Mittagspause hätten. Wenn ich was wolle, solle ich am Nachmittag in die Praxis kommen. „Nun ich müsste tagsüber eigentlich auch arbeiten, statt mich von einer Instanz des Gesundheitswesens zur nächsten zu schleppen“, entgegnete ich. „Und ich bitte ja nicht um viel, sondern nur, dass sie Dr. Fischer eine Nachricht übermitteln“. „Ja und was denn“, blaffte die Dame zurück. Ich betrachtete dies trotzdem als Aufforderung und fasste mich kurz. „Meine Mutter würde am Samstag aus dem Krankenhaus entlassen und bräuchte einen Toilettenstuhl und Verbrauchsmaterial für Inkontinenz. Den Toilettenstuhl hat das Krankenhaus auch schon verordnet. Das Verbrauchsmaterial dürfen sie dort nicht verordnen. Dafür soll ich mich an den Hausarzt wenden, was ich hiermit tue“. „Ihre Mutter wird am Samstag entlassen?“ fragte mich die Assistentin. Ich nickte. „Und sie ist derzeit noch im Krankenhaus?“ setzte sie nach. Ich bejahte. „Na dann ist die Angelegenheit einfach“, entgegnete sie. „Solange ihre Mutter noch im Krankenhaus ist, darf der Hausarzt nichts verschreiben“.

 

Ich staunte nicht schlecht und deutlich. Und die Damen bemerkten das auch. „Da kann man nichts machen. So ist das geregelt“, schloss die Sprecherin und wir gingen getrennte Wege. Ich beschloss, es später trotzdem noch mit einem Telefonat mit dem Hausarzt zu versuchen.

 

Im Krankenhaus ging ich zunächst, zu dem sich im Erdgeschoss befindlichen Büro des Sozialdienstes. Ich hatte wieder Pech. Auf das Klopfen reagierte niemand und die Tür war abgeschlossen. Also dann zuerst Richtung Krankenzimmer, zu Marianne. Ihr Zustand war erschreckend. Wenn sie nicht apathisch dalag, zitterte sie extrem stark. Zudem schien sie zeitweise desorientiert. Sie war nicht in der Lage einen Bissen oder ein Getränk und sei es auch in der Schnabeltasse in den Mund zu bekommen. Sie konnte weder die Fernbedienung des Fernsehers noch ein Telefon bedienen. Mag sein das chirurgisch alles in Ordnung war, neurologisch auf keinen Fall. Sofort begab ich mich in das Stationszimmer und fragte die dort anwesende Schwester, ob ein Arzt anwesend sei. Als sie dies verneinte, fragte ich sie, ob sie meine Mutter an diesem Tag schon gesehen bzw. unterstützt hatte. Als sie dies bejahte, schilderte ich ihr meinen Eindruck und bat sie um eine Einschätzung. Sie bestätigte meine Meinung, dass der neurologische Zustand der Patientin schlecht war. Meine Frage nach dem behandelnden Neurologen konnte sie nicht beantworten, stattdessen empfahl sie mir doch einfach mal in die Neurologie zu gehen. Sofort machte ich mich auf den Weg, hetzte die Treppen herunter, lief über den langen Gang, diesmal das Büro des sozialen Dienstes ignorierend, vorbei an der Cafeteria und hinein in den Empfang der neurologischen Ambulanz. Ungeduldig wartete ich, bis die Sekretärin die drei vor mir wartenden Patienten abgearbeitet hatte. Eine Viertelstunde nach meinem Eintreffen hatte ich mein Anliegen vorgebracht, aber nur um zu erfahren, dass die Ambulanz für stationäre Patienten nicht zuständig sei und ich mich an das Büro des Chefarztes der Neurologie wenden solle. Bedanken, kehrt machen und den Flur hinunter in das Büro von Dr. Kloos. Auch der dort arbeitenden Sekretärin schilderte ich die Lage. Dr. Kloos sei derzeit nicht im Büro, sie werde ihn aber informieren und man würde sich bei mir melden.

 

Zurück auf der Station lief mir glücklicherweise Frau Dr. Maternus in die Arme. Ich sprach sie sofort auf meine Mutter und deren Verfassung an, worauf sie mich in das Krankenzimmer begleitete. Sie sprach meine Mutter an, bekam aber wenig Feedback. Daraufhin bat sie mich, ihr auf den Flur zu folgen. Vor der Tür sagte ich ihr, dass ich zwar kein Arzt und schon gar kein Neurologe sei, mir aber nicht vorstellen könne, dass man sie in diesem Zustand entlassen könnte. Frau Dr. Maternus bestätigte meinen Eindruck, bemerkte aber einschränkend, dass auch sie keine Neurologin sei, sich aber mit den Kollegen kurzschließen würde. Sie verschwand in einem Arztzimmer. Ich blieb allein auf dem Gang zurück. Etwa 15 Minuten später ging die Tür des Arztzimmers auf, Frau Dr. Maternus kam heraus und teilte mir mit, dass sie mit Dr. Kloos telefoniert hatte. Man hatte beschlossen, meine Mutter stationär in der Neurologie aufzunehmen.

 

Ich bedankte mich und überbrachte meiner Mutter die für sie sicher schlechte Nachricht, dass sich ihr Aufenthalt im Krankenhaus noch um einige Tage verlängern würde. Kaum hatte ich das Zimmer betreten, klingelte mein Handy. Der Rückruf des sozialen Dienstes. Nein, man könne sich nicht erklären, weshalb die Verordnung bei Teich nicht vorlag. Der Vorgang wurde ordnungsgemäß zu Ende bearbeitet und die unterzeichnete Verordnung in den Ausgang für derartige Vorgänge gelegt. Der Ausgang war am heutigen Morgen leer. Ich bat die Dame trotzdem, bitte nochmals selbst bei Teich anzurufen und den Fall direkt mit dem Sanitätshaus zu besprechen. Nachdem ich meine Mutter informiert und anschließend beruhigt hatte, ging ich in ihre Wohnung um ein neues Problem zu lösen. Die polnische Pflegekraft musste umdisponiert werden. Keine Ahnung, wann sie denn nun sinnvollerweise kommen sollte, am kommenden Samstag aber sicher nicht. Den in der Wohnung meiner Mutter vorhandenen WLAN-Anschluss nutzend, informierte ich Frau Kolinek per Mail. Ergänzend bat ich sie um einen kurzfristigen Anruf. Schon kurz darauf klingelte das Telefon. Aber es war nicht Frau Kolinek die anrief, sondern die Firma Teich, die mir mitteilte, dass alles geklärt wäre. Ich teilte der Mitarbeiterin mit, dass ich innerhalb der nächsten Stunde vorbeischauen würde um den Liefertermin zu klären. Ich wollte ja sowieso noch Inkontinenzmaterial kaufen, um die ersten Tage nach der Entlassung meiner Mutter bis zur Verschreibung durch den Arzt und die Lieferung durch das Sanitätshaus Teich zu überbrücken. Bis zum Standort der Firma waren es, wenn man nicht gerade in der „rush hour“ unterwegs war, nur ca. 10 Minuten mit dem Auto.

 

Bei Teich eingetroffen ging ich an den Serviceschalter, wo sich nach kurzer Wartezeit ein freundlicher junger Mann meiner Anliegen annahm. Nachdem ich den Namen und das Geburtsdatum meiner Mutter angegeben hatte und der Servicemitarbeiter diese in den hinter dem Schalter befindlichen Computer eingegeben hatte, war er auf Ballhöhe. Die Irritationen um die Verordnung des Toilettenstuhls hatten sich geklärt. Nein, was da schiefgelaufen war, könne er an den Daten nicht erkennen, aber das war nun auch nebensächlich. Eine weitere gute Nachricht: Der Toilettenstuhl war auf Lager und könnte, wenn die hauseigene Spedition nicht unerwartet Protest anmeldete, noch diese Woche, also morgen geliefert werden. Ich würde noch im Laufe des Nachmittags einen Anruf seitens der Spedition bekommen, in dem man mir, entweder mitteilen würde, dass es doch nicht klappt, was allerdings nicht zu erwarten stand oder man mich über den genauen Termin der Anlieferung informieren würde. Inkontinenzmaterial könnte ich natürlich käuflich erwerben. „Was brauchen sie denn?“, fragte der Servicemitarbeiter. „Windelhöschen und Bettauflagen“, antwortete ich. „Welche Größe?“, fragte der Servicemitarbeiter. Meine Hoffnung, dass sich die Frage auf die Größe des Bettes wegen der Auflage bezog, war spätestens zerstört, als er in einem Nebenraum in den wir mittlerweile spaziert waren, das Sortiment an Windelhöschen vor mir ausbreitete. Ich entschied mich für Grösse M. Besser etwas zu groß und nur bedingt funktionierend als zu klein und völlig unbrauchbar dachte ich. „Wie viel Material brauchen sie?“, fragte der Mitarbeiter. „Ich muss ein bis zwei Wochen überbrücken“, antwortete ich. Er nahm ein Paket mit 12 Windelhöschen aus dem Regal und legte dann noch sicherheitshalber gratis 2 Höschen mit Größe S obendrauf. Für den Fall das M zu groß wäre. „Die zu großen passen zwar, helfen aber nicht wirklich, da dann viel daneben läuft“, erklärte er. Zurück am Schalter zahlte ich in etwa 20 EUR und verließ mit einem Packen von Inkontinenzmaterial unter dem Arm das Gebäude.

 

Auf dem Weg nach Hause erreichte mich ein Anruf von Frau Kolinek. Sie berichtete mir, dass sie der Pflegekraft mitgeteilt hatte, dass die Anreise am Samstag nicht stattfinden sollte. Leider hätte Frau Zofia schon eine Fahrkarte gekauft und wüsste nicht, was eine Umbuchung kosten würde. Ich versicherte Frau Kolinek, dass ich die Kosten dafür tragen würde und sicherte ihr ebenfalls zu, dass ich eine diesbezügliche Bestätigung, sowie einen Vorschlag zu weiteren Verfahrensweise per Mail an sie senden würde. Noch bevor ich zu Hause eintraf, erreichte mich ein weiterer Anruf. Diesmal am Apparat, die Spedition der Firma Teich. Die Botschaft: Anlieferung des Toilettenstuhls am morgen Freitag gegen 11:00 Uhr.

 

Zu Hause angekommen überlegte ich mir die weitere Vorgehensweise bezüglich der polnischen Pflegekraft. Nochmals von vorne beginnen, das hieß abzuwarten und eine neue Kandidatin auszusuchen, mochte ich nicht. Folglich musste ich spekulieren. Ich schrieb Frau Kolinek, dass sie mit Frau Zofia eine Anreise für den darauf folgenden Samstag vereinbaren sollte und ihr mitzuteilen, dass es gegebenenfalls noch eine Verschiebung auf später geben könne, ich ihr aber in diesem Fall die Wartezeit zumindest teilweise vergüten würde. Für mich stand damit auch schon wieder die Hauptaufgabe für die nächste Woche fest. Herausfinden, wann meine Mutter denn nun aus dem Krankenhaus entlassen wird. Sisyphus lässt grüßen.

 

Dann war da nur noch der Anruf beim Hausarzt meiner Mutter zu erledigen. Natürlich konnte mich die Sprechstundenhilfe nicht gleich durchstellen, es war ja Sprechstundenzeit und der Arzt mit vor Ort befindlichen Patienten beschäftigt. Da es für mich, die Inkontinenzmaterialien hatte ich ja bereits, nur noch um einen pathologischen Vorgang ging, riskierte ich, die Sprechstundenhilfe zu bitten, Dr. Fischer zu bitten, mich doch zurückzurufen. Das passierte glücklicherweise bereits 30 Minuten später. Dr. Fischer bestätigte, zu seinem und meinem Bedauern, die Aussagen seiner Sprechstundenhilfe vom Tage. So lange meine Mutter noch im Krankenhaus war, durfte er nichts verordnen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich die Informationen auch erst nach verbrachten Stunden im Wartezimmer des Arztes hätte erhalten können. Unter diesem Aspekt betrachtet, war das ja noch „gut gelaufen“.