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Fatebug - Tödliches Netzwerk 100

 

100.

 

 

 

Auf den nächsten Morgen hatte er mit Spannung gewartet. Er hatte schlecht geschlafen, obwohl es gestern spät geworden war. Zuerst hatte er annähernd drei Stunden für die Rückfahrt aus dem Ruhrgebiet benötigt. Er war kurz vor dem Leverkusener Kreuz in einen Stau geraten und war auch über die A3 nur quälend langsam vorangekommen. Dann hatte er sich schnell etwas zu essen gemacht und sich vor den Fernseher gesetzt. Hatte hin und her gezappt, wollte Nachrichten und Magazine sehen, hatte insgeheim auf Sondersendungen gehofft. Letztlich hatte die Berichterstattung ihn aber enttäuscht. Sicher, über den Mord wurde in allen Nachrichtensendungen berichtet, sowohl die Kommentare in den Hauptnachrichten von ARD, ZDF und den führenden Privatsendern waren ihm, waren der Tat in Bischofswerda gewidmet. Er musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass Bischofswerda den meisten Leuten noch vor wenigen Stunden unbekannt war, nun aber der meist erwähnte Ort im Lande war. Er konnte sich lebhaft vorstellen wie von Neugier getriebene Finger und Blicke über Karten glitten, erst nach Dresden, dann weiter nach Osten.

 

Die Nachrichtensendungen beschränkten sich im Wesentlichen auf die Fakten. Berichteten über den Mord, das Auffinden der Leiche und wärmten die Vorgeschichte auf.

 

Natürlich fehlten auch kurze Interviews mit betroffenen Politikern nicht. Betroffen auf zweierlei Arten, einerseits geschäftsmäßig, weil es den Verlust an Menschenleben zu beklagen galt, andererseits weil sie für Ressorts zuständig waren, die mit den Problemen, die Fatebug verursachte konfrontiert waren. Pflichtgemäß mahnten sie zu Besonnenheit, betonten die Unrechtmäßigkeit der Taten von Fatebug, erwähnten ihre Unzufriedenheit mit dem Verhalten der Betreiber und vieler Nutzer der sozialen Netzwerke.

 

Die Aufgabe Schlüsse hinsichtlich der Bedeutung seiner Taten zu ziehen, war den Kommentatoren vorbehalten. Sie stellten, sofern es die Kürze der ihnen eingeräumten Sendezeit es gestattete, einen Zusammenhang her zu relevanten Themen, wie Meinungsfreiheit, Bürgerrechte. Viele wagten einen Ausblick, skizzierten Konsequenzen. Manche überspannten den Bogen, sogar der Begriff Bürgerkrieg fiel. Aber für eine richtige Diskussion reichte die Zeit natürlich nicht. Die war den Zeitungen vorbehalten.

 

Hier, in den Montagsausgaben der wichtigen Tageszeitungen fand er, worauf er gewartet hatte. Kluge Geister mit Raum für ihre Gedanken.

 

Neben Fakten bezüglich der jüngsten Ereignisse suchten die Autoren auch nach Gründen und Hintergründen. Sie analysierten die Entwicklung der sozialen Netzwerke, kritisierten die Politik, die sich auf die Selbstregulierung der Anbieter verlassen hatte und sich nun, da sie Handlungsbedarf sahen, nur mit einem Instrumentarium ausgestattet sahen, welches die letzten 20 Jahre nicht weiter entwickelt wurde. Die Netzwerke konnten gefahrlos und verantwortungslos die über sie verbreiteten Inhalte ignorieren und ihrem Geschäft nachgehen. Allein fokussiert auf Zugriffszahlen und Nutzeranzahl, wohl wissend, dass Skandale und Gewalt für ihre Nutzer interessanter waren als langweilige Alltagsgeschichten oder Politik.

 

Auch die Nutzer selbst waren kaum beeinflussbar, konnten sich in der seitens der Anbieter zugesicherten Anonymität austoben, jenseits von Gesetz, jenseits vom Moral und Anstand.

 

Neben der Anonymität schützen sie das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Ein gerade in diesem Land teuer erkauftes Gut. In der Verfassung verankert, weil die Erinnerung an die Folgen einer Einschränkung Meinungsfreiheit und Medienvielfalt noch allzu frisch war. Die Existenz von Plattformen, die es jedem erlaubte, Nachrichten und Meinungen anonym und ungeprüft zu verbreiten, hatten die Gestalter der Verfassung nicht voraussehen können. Doch waren das überhaupt Nachrichten, die dort verbreitet wurden. Hatte eine Nachricht nicht etwas mit Wahrheit zu tun, mit Fakten, mit Nachprüfbarkeit. Das hatte der Gesetzgeber erkannt und der Medienlandschaft eine Ordnung gegeben. Indem sie für ihre Inhalte verantwortlich gemacht wurden, gezwungen wurden Gegendarstellungen zu drucken, wenn die Wahrheit nicht eindeutig zu erkennen, zu beweisen war.

 

Das galt für die sozialen Netzwerke so nicht. Sie verbreiteten im Zweifelsfall Meinungen. Und für die galt Freiheit in der Bundesrepublik.

 

Aber schützt die Meinungsfreiheit das, was in den sozialen Netzwerken verbreitet wird. Sind das Meinungen? Wodurch unterscheiden sich Meinungen von Gerüchten, Behauptungen oder Anschuldigungen? Einen Unterschied muss es ja geben. Wozu sonst unterschiedliche Begriffe, unterschiedliche Definitionen. Setzt eine Meinung nicht einen Meinungsbildungsprozess voraus, eine Auseinandersetzung mit der Materie, ein Abwägen von Argumenten und eine bewusste, eigene Entscheidung. Und gehörte zu einer Meinung nicht auch die Pflicht, für sie einzustehen, für sie zu kämpfen, die Verantwortung für sie zu übernehmen.

 

All das wurde in den sozialen Netzwerken ignoriert. Kam in ihrem Kontext nicht zur Anwendung. Nicht mangels Intuition oder bewusst, sondern wegen falscher, vielleicht fahrlässiger, Einschätzung durch den Gesetzgeber. Und jetzt war es zu spät. Hilflos lief die Gesetzgebung der Realität hinterher. Eingesperrt zwischen Lobbyisten und Kalkül, gefangen in der Globalisierung, ängstlich vor den Konsequenzen, sahen sie keinen Weg für eine machbare Lösung.

 

Aber nun war die Situation anders. Ein Mörder schien dafür gesorgt zu haben, dass sich die Opfer in den Netzwerken erhoben, sich solidarisierten und Sympathisanten gewannen. Die Gefahr bestand, dass die Täter zu Opfer wurden. Selbst verletzt wurden, nicht nur durch Worte oder Drohungen, sondern durch Gewalt. Und niemand wusste, wie viele sie werden würden, wie weit sie gehen würden. Nur eins stand fest, wenn sich nur ein Bruchteil der von Hass und Verleumdung Betroffenen beteiligen würde, würden es sehr viele werden. Und das war eine Gefahr für die gesamte Republik.

 

Auch Vorschläge zu Verbesserung der Situation hatten sie. Manche nur kühn, andere auch interessant. Das Spektrum reichte von der Anerkennung und steuerlichen Begünstigung von Nutzergemeinschaft, die sich um die Aufklärung und Widerlegung von Fake News kümmerten, dem grundsätzlichen Verbot der sozialen Netzwerke oder dem Zwang zu Authentifizierung und Identifizierung der Nutzer. Die Politiker würden einiges zu diskutieren haben.

 

Zufrieden schlug er die Zeitungen zu. Sie hatten seine Botschaft verstanden.