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Fatebug - Tödliches Netzwerk 105

 

105.

 

 

 

Das wollte er sich natürlich auf keinen Fall entgehen lassen. Die Fernsehsender hatten die Stimmung kräftig angeheizt. Mitten in den von gesendeten und noch geplanten Sondersendungen gespickten Nachmittag war kurz vor den Abendnachrichten noch das Gerücht über einen weiteren Mord aufgekommen. Aber ihn interessierte eigentlich nur eine Sendung, eine politische Talkshow am Montagabend, eine Sendung in der Betroffene, Politiker und Vertreter der sozialen Netzwerke aufeinander trafen.

 

Nahezu den ganzen Tag hatte er vor der Mattscheibe verbracht, lediglich unterbrochen von Toilettengängen und kurzen Pausen, um sich etwas zu essen zu machen, nur kalte Speisen, zum Kochen war keine Zeit, und sich mit Getränken zu versorgen. Gegessen wurde vor dem laufenden Fernseher. Nur nichts verpassen, das war die Devise für den heutigen Tag.

 

Der Tag war auch deshalb wichtig, weil er abhängig von dem erreichten Ergebnis die weiteren Schritte planen wollte. Weitere Opfer heimsuchen? Die Liste der Kandidaten war noch lang. Sich eine Pause gönnen oder sich auf die Öffentlichkeitsarbeit konzentrieren? Oder sogar Aufhören und von der Bildfläche verschwinden. Diese Option hatte er zu Beginn seines Feldzuges nie in Erwägung gezogen. Weil er nicht erwartet hatte, dass es so glatt gehen würde, dass die Behörden nach dem fünften Vorhaben immer noch keine Spur hatten. Er hatte auch nie darüber nachgedacht, wie er denn unbehelligt weiter leben sollte. Das meiste Geld war investiert, in den Kreuzzug. Einen Job hatte er nicht mehr. Wovon sollte er leben? Außerdem, wenn sie ihn nicht erwischen würden, müsste er auf ein wesentliches Element seiner Kampagne verzichten. Den Prozess der das Thema wieder aufleben lassen würde, der als ein wesentlicher Teil der Öffentlichkeitsarbeit vorgesehen war, der benötigt wurde, sofern sich die Geschichte nicht mit dem schon Erreichten erledigt hatte.

 

Dann riss ihn die Eröffnungsmelodie der Talkshow aus seinen Gedanken.

 

Der Moderator begrüßte die Gäste, den Bundesminister des Innern, Staatssekretärin Dr. Vera Buhr als Vertreterin des Justizministeriums, Dr. Dieter Gassmann, den Geschäftsführer des deutschen Ablegers von Fatelog, ein Opfer und Detlef Schmittke, den Journalisten vom Rheinischen Anzeiger.

 

Zu Beginn der Sendung gab der Moderator einen kurzen Überblick über die Geschehnisse der letzten Woche. Als er auf die Übergriffe auf vermeintliche Hater zu sprechen kam, nutzte der Innenminister die Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass Fatebug ein gemeiner Mörder sei und dass es sich bei den Übergriffen ebenfalls um Verbrechen handele, die der Staat mit aller Härte verfolgen und ahnden würde.

 

Diese Erklärung nutzte der Moderator geschickt um Dr. Gassmann zu fragen, ob sich das Unternehmen Fatelog denn irgendwie mitschuldig fühlen würde, an den Morden oder den Überfällen.

 

Der Geschäftsführer erklärte pflichtgemäß, dass ihm und seinen Kollegen die Opfer natürlich leidtun würden. Selbst in den Staaten zeige man Anteilnahme, denn die Ereignisse würden natürlich im gesamten Konzern aufmerksam verfolgt. Aber eine Verantwortung, die wollte das Unternehmen natürlich nicht unternehmen. Gassmann begründete das mit der üblichen Litanei, dass sein Unternehmen ja nur eine Plattform biete, meinungsneutral und ohne Einflussnahme auf die Inhalte sei. Für die Inhalte seien allein die Nutzer verantwortlich. Gesetzesverstöße würde man, sofern man davon Kenntnis erlangte, schnellstmöglicht korrigieren. Das folgende Geplänkel um eine angemessene oder unzureichende Zeitspanne, die das Unternehmen für die Korrektur brauchte, war ebenfalls frei von Überraschungen. Die Sendung fing an, ihn zu langweilen, als die Frage des Moderators, ob die Ereignisse die Konzernführung denn wenigstens zum Nachdenken gebracht hatte, Gassmann offensichtlich ins Schwitzen brachte.

 

Als er nach einigen Momenten des Nachdenkens nicht mehr als ein „Natürlich“ herausbrachte, hakte der Moderator nach und fragte nach Konsequenzen und Veränderungen.

 

Als Gassmann sich mit Hinweisen auf die Notwendigkeit gründlicher Analysen, natürlich benutzte er dabei auch den Begriff Schnellschuss, herausreden wollte, meldete sich Staatssekretärin Dr. Buhr zu Wort.

 

Sie sah eine klare Verantwortung von Fatelog. Juristisch müsste das Maß sicher noch exakt bewertet werden, moralisch sah sie eine klare und deutliche Mitverantwortung. Anschließend kündigte sie Schritte an, um auch die juristische Seite klarer zu gestalten, sie in Einklang mit dem Moralempfinden zu bringen.

 

Gassmann konterte pflichtgemäß mit Hinweisen auf die bereits vorhandenen Mechanismen und Anstrengungen. Und stellte Verbesserungen in Aussicht. Wenn dies nicht ausreichen sollte, müsste man über personelle Verstärkungen nachdenken.

 

Die Zeit des Glaubens an die Selbstverpflichtung wäre vorbei, dazu hatten die Unternehmen zu lange zu wenig getan. Schließlich hatte es diesbezügliche Zusagen seitens des Unternehmens nach Gesprächen mit dem Justizminister bereits vor gut einem Jahr gegeben, erinnerte Frau Dr. Buhr. Was daraus geworden war? Das könnte man ja sehen, die Medien berichteten ja umfänglich genug darüber.

 

Das war das Stichwort für den Moderator, Detlef Schmittke zu fragen, ob denn nicht auch die Medien mit ihrer, zumindest in bestimmten Blättern, populistischen Berichterstattung für die gegenwärtig zu beobachtende Eskalation mit verantwortlich seien.

 

Und Schmittke ging ihm in die Falle, was er erst merkte, als der Moderator nach Schmidts Argumentation, dass die Medien nur die Informationen transportierten, ihn nach dem Unterschied zwischen den Medien und den Betreibern fragte.

 

Gerettet wurde er vom Innenminister, der auf die unterschiedlichen Rechtsgrundlagen für die Medien und Netzwerkbetreiber hinwies. Erstere sind durch das Mediengesetz der Wahrheit verpflichtet, müssen bei Irrtum Gegendarstellungen veröffentlichen. Das alles gilt für Fatelog nicht. Wieder nutzte der Moderator geschickt die Chance einen weiteren Gast in das Gespräch zu bringen, indem er die anwesende Frau, die stellvertretend für viele Opfer eingeladen wurde, nach ihren Erfahrungen und Empfindungen befragte.

 

Was sich dramaturgisch als sehr geschickt erwies und die Anwesenden und die Millionen von Zuschauern mit einem beklemmenden Gefühl zurückließ.

 

Dringenden Handlungsbedarf signalisierten auch die anschließenden Spätnachrichten. Die Anzahl der gewaltsamen Übergriffe hatte dramatisch zugenommen. Über dreißig Überfallene mussten medizinisch behandelt werden, knapp ein Dutzend Verdächtige waren vorläufig festgenommen worden. Dann schaltete er den Fernseher aus.

 

Er würde heute keine Entscheidung treffen. Es lief zwar sehr gut, aber es gab noch Gelegenheit, die Situation zu verschärfen. Und eine Option beschäftigte ihn noch. Noch ein Kanister Öl, um ihn in das Feuer zu gießen, um eine weitere Front zu eröffnen.