116.
Er hatte sich für den Weg ohne direkte Schuldzuweisungen entschieden. Nicht als fatalen Fehler, sondern als gemeinsames Versäumnis dargestellt.
Die Gruppe hatte nicht schlecht gestaunt, als Strecker direkt nach der Begrüßung in der morgendlichen Telefonkonferenz das Wort ergriff.
„Stopp!“, hatte er gerufen. „Mir ist etwas aufgefallen. Etwas, das sehr wichtig sein könnte. Es könnte sein, dass wir etwas übersehen haben“.
Dann hatte er eine Kunstpause eingelegt, hatte das Schweigen und die Spannung genossen. Und er würde sie noch etwas länger auf die Folter spannen. Auf die zwei bis drei Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an.
Er hatte sich schon vergewissert, dass ihm wirklich etwas Wichtiges aufgefallen war. Hatte Max Lohr in das Vertrauen gezogen, ihm seine Erkenntnisse anvertraut und ihn zum Schweigen verdonnert. Und ihn dann beauftragt, seine Vermutung zu überprüfen, die Akten dahingehend zu überprüfen, dass nicht einfach etwas übersehen hatte. Er wusste ja um seine Schwäche bei der Arbeit am Bildschirm. Und wenn er die Informationen einfach übersehen hätte, wäre seine Erkenntnis nicht sensationell, sondern nur peinlich. Aber Lohr hatte auch nichts gefunden.
„Ich habe ja gestern Abend nochmals einen Besuch bei Herrn Heeger machen wollen. Ihn aber wieder nicht angetroffen und beschlossen, den angebrochenen Abend dafür zu investieren unsere Ermittlungen nochmals zu rekapitulieren. Dazu habe ich mir erneut die Ermittlungsakten angesehen und bin dabei auf eine Serie von Fotos gestoßen. Laut der Ermittlungsakte handelt es sich dabei um Fotos, die auf einer Vernissage im Hause von Karin Schuster, dem Bonner Opfer gemacht wurden. Dann habe ich in der Akte nach Informationen, Vernehmungsprotokollen mit den auf den Fotos abgebildeten Personen gesucht. Ich habe aber nichts gefunden, deshalb hatte ich meinen Kollegen, Kommissar Lohr gebeten, das nochmals zu überprüfen. Er hat auch nichts gefunden.“
„Sie konnten auch nichts finden“, meldete sich Hauptkommissar Warnecke. „Meines Wissens wurden nur die auf den Fotos abgebildeten Personen befragt, auf die wir im Zuge der Ermittlungen auf anderen Wegen aufmerksam wurden“.
„Aber gerade die anderen hätten uns interessieren sollen“, sagte Strecker, eine Spur aggressiver als er das vorgehabt hatte. Um die Atmosphäre zu entspannen, lieferte er die Erklärung gleich nach.
„Wir wissen, dass der Täter seine Taten langfristig vorbereitet hat. Er hat Frau Schuster in ihrem Haus ermordet. Wenn ich der Täter wäre und die Möglichkeit gehabt hätte, mich vorher an dem Ort, an dem ich die Tat durchführen möchte, umzusehen, ich hätte sie genutzt. Von der Vernissage konnte er leicht wissen, sie war auf der Homepage angekündigt. Ich vermute, er hat die Vernissage genutzt, um sich vorher umzusehen. Er könnte also auf einem der Bilder zu sehen sein. Der Künstlerkreis ist nach meiner Erfahrung recht geschlossen. Das bedeutet, man kennt sich untereinander. Wenn wir alle also befragen, wen sie auf den Fotos erkennen und wen nicht, bin ich davon überzeugt, dass höchstens eine Handvoll Personen nicht identifiziert werden wird. Und eine davon könnte unser Täter sein.“
Hauptkommissar Faber übernahm sofort die Initiative, ordnete an, dass alle im Umfeld des Bonner Mordes bekannten Personen sofort aufgesucht werden sollten, um mit ihnen die Bilder durchzugehen. Jede Person sollte sich jedes Foto ansehen und sofern ihr die Person bekannt war, deren Namen und sofern bekannt, auch die Adresse nennen. Identifizierte Personen, die noch nicht auf unserer Liste stehen, wären ebenfalls zu befragen. Hauptkommissarin Garber sollte die Aktion koordinieren. Bis 15:00 Uhr erwarte er ein Ergebnis oder ein Zwischenergebnis mit Angabe der noch nicht befragten Personen. Dann wäre er, Faber aus München zurück. Man sollte die zu befragenden Personen notfalls stören, egal was sie taten.
Auch in der alten Bundeshauptstadt war die Jagdsaison nun eröffnet.