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Fatebug - Tödliches Netzwerk 120

 

120.

 

 

 

Er hatte sich einen schönen Tag in Berlin gemacht, hatte den Fehlschlag gut weggesteckt, war sogar ziemlich stolz auf sich. Es war seine Entscheidung gewesen, den Versuch abbrechen. Und die Entscheidung war richtig, mutig und rational. Die Chancen nüchtern abschätzen, keine unkalkulierbaren Risiken eingehen, warten zu können. Das hatte ihn so weit gebracht, das war sein Erfolgsrezept.

 

Er hatte den Wagen auf dem Parkplatz eines großen Einkaufszentrums abgestellt und sich auf die Berliner Touristenpfade begeben. Bellevue, Brandenburger Tor, Adlon, Reichstag, Hauptbahnhof, dann über die Friedrichstraße zum Potsdamer Platz. Als er müde wurde, setzte er sich in die S-Bahn fuhr nach Köpenick, schlenderte dort etwas herum, besuchte ein Cafe´ und fuhr dann wieder zurück in das Zentrum.

 

Er holte den Bus vom Parkplatz des Einkaufszentrums und fuhr zurück zur Wohnung von Kleefisch. Vielleicht fand sich ja schon heute ein Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung, dann wäre der Stress morgen früh deutlich geringer. Aber er hatte kein Glück, fand keine geeignete Lücke, musste den Wagen schließlich wieder auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums abstellen. Von dort ging er zu Fuß zurück in Richtung Hotel. Unterwegs besuchte er noch ein Restaurant, trank eine halbe Flasche Wein und verbrachte den Rest des Abends auf seinem Hotelzimmer. Der Tag hatte ihn müde gemacht, aber er hatte noch einen Termin. Mit dem TV, denn heute am Donnerstag war, wie immer, eine Talkshow im Programm. Das Thema: „Macht und Missbrauch der sozialen Netzwerke“.

 

Schon die Nachrichten hatten ihm Spaß gemacht. Die Welle der im Namen von Fatebug verübten Gewalttaten ebbte nicht ab. Politiker und Strafverfolgungsbehörden riefen die Bürger zur Mäßigung auf. Politiker versprachen, das Problem anzugehen, für Verbesserungen zu sorgen. Das Ausland blickte erstaunt auf die in Unruhe geratene Republik.

 

Um 22:15 Uhr, direkt nach den Spätnachrichten, ging es dann auch los. Auf die Medien war Verlass. Kaum gab es einen Trend, dann gab es auch gleich einen Hype. Die Medien penetrierten das Thema ohne Unterlass. In den Nachrichten, Sondersendungen und Talkshows. Es gab Sendezeit ohne Ende. Auf allen Kanälen. Das eine ausgeprägte Medienpräsenz der jeweiligen Ereignisse und die damit verbundene Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit selbst zur Motivation der Täter beitragen könnte, schien keine Rolle zu spielen. Auch hier galten die gleichen Gesetze, die für die sozialen Netzwerke galten. Der Erfolg wurde an der erreichten Aufmerksamkeit gemessen, an Klicks oder Quote. Und Angst und Schrecken waren besser geeignet diese Aufmerksamkeit zu erzeugen, als positive Nachrichten.

 

Anfangs war er ein wenig enttäuscht, er hatte sich zumindest einen Bundesminister erhofft, die Moderatorin konnte aber lediglich zwei Staatssekretäre begrüßen. Herrn Schneider für das Bundesministerium des Innern und Frau Dr. Buhr, Staatssekretärin im Bundesjustizministerium. Auch ein Vertreter des Unternehmens Fatelog war nicht anwesend, allerdings sollte Roger McFarlane, der Geschäftsführer für Europa, telefonisch zugeschaltet werden. Der letzte Gast war ein, laut Ankündigung der Moderatorin bekannter, Philosoph namens Professor Storch.

 

Wie üblich erläuterte die Moderatorin zu Beginn den Stand der Dinge und bat, nachdem sie über die vermehrten gewalttätigen Übergriffe und deren Strafverfolgung berichtet hatte, Staatssekretär Schneider um seine Einschätzung der Situation. Diese lieferte er auch routiniert ab, verurteilte die Übergriffe, bat um Mäßigung, kündigte rücksichtslose Strafverfolgung an und verwies natürlich auf die bisher guten Erfolge.

 

Dann ging der Staffelstab, mit der Bitte, sich zum Thema Verantwortung zu äußern, an McFarlane. Auch hier die routinierte Litanei aus Bedauern, Ablehnung von Verantwortung und dem Versprechen, trotzdem an der Lösung mitzuarbeiten.

 

Spannend wurde es erst, als Frau Dr. Buhr an die Reihe kam. Dabei beeindruckte ihn weniger was sie sagte, sondern wie selbstsicher und entschlossen sie ihre Sicht vortrug, schilderte, dass die Bundesregierung handeln und sich für Verbesserungen stark machen würde. Dass dies nicht nur sein rein subjektiver Eindruck war, wurde ihm durch die Reaktion von McFarlane bestätigt, der sich, trotz des Handicaps der telefonischen Zuschaltung in die Diskussion drängte, um auf den Aspekt der Berücksichtigung der Machbarkeit hinzuweisen.

 

Wie die Staatssekretärin darauf einging, amüsierte ihn. McFarlane dürfte das eher beunruhigt haben, stellte sie doch fest, dass Vieles sicher kurzfristig ginge und man mit dem was erst längerfristig machbar ist, auch gerne etwas warten würde, sofern die Notwendigkeit der Wartezeit nachvollziehbar begründet wäre und die spätere Verbesserung verbindlich vereinbart würde.

 

Der Philosoph sollte sich zu der Frage äußern. Er vertrat den Standpunkt, dass man die Menschen nicht überschätzen, nicht überfordern dürfte. Entwicklung sei ein langsamer behutsamer Prozess. Und sowohl die Politik als auch die Betreiber hätten die Menschen mit den Möglichkeiten des Internets alleingelassen, ihnen nicht vermittelt, dass insbesondere weitgehende technische Freiheiten moralische Begrenzungen erfordern. Nicht alles, was geht, darf man auch tun. In vielen Bereichen hat die Gesellschaft zu wenig Grenzen gesetzt, juristisch oder moralisch, auf die Gesellschaft selbst als Regulativ vertraut. Damit waren viele überfordert. Er zog eine Parallele zum Straßenverkehr. Zum Autofahren bedarf es eines Führerscheins, einer Ausbildung. Für das Zusammenleben im Verkehr gibt es Regeln, eine Ordnung und bei Verletzung der Regeln Strafen, Sanktionen. Wenn die Politik und die Konzerne erwartet hatten, dass die Bürger im Gegensatz zum Thema Verkehr mit dem Internet völlig eigenständig klarkämen, war das aus seiner Sicht naiv. Warum sollte das funktionieren? Vielleicht war man davon ausgegangen, dass im Internet, im Gegensatz zum Verkehr, bei Problemen keine physikalischen Schäden entstehen würden. Aber auch das wäre naiv, zeigt doch die historische Erfahrung, dass Worte ebenso Katastrophen auslösen können, wie Handlungen. Zu häufig ist und war die Handlung eine Reaktion auf das Wort.

 

Die Ausführungen des Philosophen bleiben natürlich nicht unwidersprochen, insbesondere die Politiker fühlten sich bemüßigt, ihre bisher zögerliche Haltung zu verteidigen. Letztlich uferte die Diskussion aus, glitt ab in grundsätzliche Fragen nach der Mündigkeit der heutigen Gesellschaft und potentiellen Gründen für das Fehlen von Anstand, Moral und Verantwortungsbewusstsein. Alle, auch er, waren schließlich ermattet und froh, als die Moderatorin auf das Ende der Sendezeit hinwies und die Schlussplädoyers einforderte.

 

Zufrieden machte er den Fernseher aus. Der Kreuzzug lief.