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Fatebug - Tödliches Netzwerk 3

 

3.

 

 

 

Als um 7:00 Uhr der Wecker klingelte, war Max Lohr schon halbwach. Obwohl er erst um kurz vor 3:00 Uhr in´s Bett gekommen war, hatte er kaum Schlaf finden können. Aber das war kein Wunder nach dem gestrigen Abend. Er sprang auf, füllte und startete die Kaffeemaschine und ging in das Bad. Nach einer gründlichen Rasur und einer schnellen Dusche zog er sich an und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Noch vor dem ersten Schluck warf er einen Blick auf sein Handy. Kaum hatte er den Flugmodus ausgestellt, zeigte es ihm an, dass er zwischenzeitlich drei verpasste Anrufe hatte.

 

Ein Blick auf die Anrufliste bestätigte seine Erwartung: Strecker. Das erste Mal um kurz nach 6:00 Uhr von seinem Mobiltelefon, dann erfolglose Versuche aus dem Büro um 6:30 Uhr und kurz vor 7:00 Uhr. Das würde wieder einen schönen Disput geben. Er konnte die Phrasen um die Begriffe „Dienstauffassung“, „immer im Dienst“ und „Verantwortungsbewusstsein“ quasi schon hören. Auf die Begrüßung freute er sich jetzt schon. Die ließ trotz seines schnellen Aufbruchs aber noch auf sich warten. Max Lohr wohnte zwar auf der eigentlich richtigen Seite der Stadt, jedoch lag das Präsidium auf der anderen, in der Gesinnung des Kölners, der falschen Rheinseite. Folglich musste er auf dem Weg zur Dienststelle über eine der Brücken, die zu den Hauptverkehrszeiten in beiden Richtungen zum Nadelöhr wurden.

 

Guten Tag“, begrüßte ihn der Hauptkommissar als er deutlich nach 8:00 Uhr ihr gemeinsames Büro betrat. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht“, fuhr er fort, „dass ich sie leblos auf einem Tisch festgebunden wieder finden würde“.

 

Lohr erwiderte nichts, außer dem Gruß und überraschenderweise ließ auch Hauptkommissar Strecker es dabei bewenden.

 

Geschmacklos, aber immerhin kurz“, dachte sich Kommissar Lohr und schaltete seinen Rechner ein. „Gibt es schon etwas Neues“, fragte er den Hauptkommissar.

 

Das hatte ich mir von Ihnen erhofft“, erwiderte dieser. „Was ist denn bei der Suche nach den vermissten Personen herausgekommen?“

 

Ich bin noch nicht ganz durch“, antwortete Lohr. Er hatte keine Lust auf einen Streit und ignorierte daher die Attacke seines sogenannten Kollegen einfach. Statt dessen öffnete er auf dem Computer das Programm mit den Daten der aktuellen Vermisstenanzeigen. „Viel Hoffnung brauchen wir uns nicht zu machen. Wenn er erst 24 Stunden tot war, wird er wahrscheinlich noch gar nicht als vermisst gemeldet sein“.

 

Sie müssen berücksichtigen, dass es sicher einige Zeit gedauert hat, um das Opfer in den bemitleidenswerten Zustand zu versetzen. Und ich will dem Doktor nicht vorgreifen, aber das war mit Sicherheit kein schneller Tod. Sie sollten also den Zeitraum der letzten vier Wochen durchgehen. Rufen Sie aber vorher nochmals in der Pathologie an. Wenn die Pathologen schon obduzieren oder sogar fertig sind, bekommen sie vielleicht noch Informationen, die bei der Suche hilfreich sein könnten. Wenn nicht, erinnert sie die Nachfrage zumindest daran, dass wir ungeduldig auf ihre Ergebnisse warten. Bis 10:30 Uhr brauche ich auch den Bericht. Viel haben wir ja noch nicht, da sollten Sie das locker schaffen können. Um 12:00 Uhr muss ich zum Chef. Da sollten wir was zum Vorzeigen haben. Selbst wenn es nur ein Stück Papier ist.“

 

Trotzdem er einen Berg dringlicher Aufgaben vor sich hatte, öffnete Max Lohr zuerst seinen Browser und klapperte die gespeicherten Lesezeichen der Webseiten der lokalen und einigen überregionalen Zeitungen ab. Über den Leichenfund wurde, zumindest in der regionalen Presse, schon überall berichtet. Hinsichtlich der besonderen Umstände fand sich aber noch nirgends ein Hinweis. Die Vergatterung hatte gehalten. Zumindest bis jetzt.

 

Lohr griff zum Hörer und wählte die Nummer der Pathologie. Wie häufig musste er es lange klingeln lassen, ein gutes Zeichen, denn dann konnte man annehmen, dass die Pathologen anderweitig sehr beschäftigt waren.

 

Als der Anruf endlich entgegengenommen wurde, meldete sich Bernd Krause, einer der Assistenten von Dr. Marx. „Nein, wir können ihnen noch nichts sagen“, antwortete dieser auf Kommissar Lohr Frage.

 

Wir haben gerade erst angefangen. In zwei Stunden wissen wir mehr. Sobald wir fertig sind, rufen wir sie oder Hauptkommissar Strecker an.“ Dann legte er auf.

 

Also noch keine Informationen, die bei der Identifizierung helfen könnten. Mit knurrendem Magen, denn zum Frühstück hatte es ja heute Morgen nicht gereicht, beschäftigte er sich mit dem Vermisstenregister, einer zentralen Datei, die beim Bundeskriminalamt geführt wurde und alle als vermisst gemeldeten Personen enthielt. Max Lohr kannte sich mit neuzeitlicher Technologie bestens aus, daher war es für ihn kein Problem, die Menge der Einträge auf männliche Personen im Alter zwischen 25 und 45, die in den letzten vier Wochen als vermisst gemeldet wurden, einzuschränken. Die Treffermenge enthielt trotzdem noch an die 100 Einträge.

 

Natürlich wusste er, dass in Deutschland jährlich über 100.000 Vermisstenanzeigen aufgenommen werden, aber die meisten Einträge waren üblicherweise nur von kurzer Dauer, da die gemeldeten Personen wieder auftauchten oder ihr Verbleib geklärt werden konnte. Ca. 5% der Einträge blieb in der Regel langfristig in der Kartei und wurden nur noch sporadisch geklärt. Trotzdem kamen für den Fall noch überraschend viele, zu viele Einträge in Frage. Doch zwei weitere Selektionskriterien, Größe und Gewicht dampften die Treffermenge auf gut 30 Personen ein.

 

Natürlich hätte er auch noch nach Haar- und Augenfarbe abgleichen können, jedoch verzichtete er bewusst auf eine weitere Abfrage nach diesen Kriterien. Zu gut war ihm noch der Vortrag eines seiner Ausbilder auf der Polizeiakademie in Erinnerung, der eindringlich vor der Nutzung dieser Kriterien gewarnt hatte. Überraschend viele Menschen hatten offenbar ihre eigenen Vorstellungen von Farbe, so dass diese Angaben in der Vermisstenkartei sich häufig als falsch erwiesen. Zur Eingrenzung einer ansonsten unüberschaubaren Treffermenge wäre ihre Anwendung vielleicht angebracht, aber nicht bei den im aktuellen Fall noch verbleibenden ca. 30 Vermissten.

 

Auf seinem Smartphone aktivierte der Kommissar seine Bildergalerie und holte das Foto mit dem Gesicht des Mordopfers auf das Display. Es dauerte nur wenige Minuten und er hatte die Liste mit den Kandidaten in drei Kategorien aufgeteilt „ausgeschlossen“, „unwahrscheinlich“ und „möglich“. Die Menge „Möglich“ enthielt acht Akten, die er sich nun genauer vornahm. Nochmals sah er sich die in der jeweiligen Akte enthaltenen Bilder an und verglich sie mit dem Photo auf seinem Handy. Auf Grund der Bilder und der Daten über Größe, Gewicht und nun auch Haar- und Augenfarbe sortierte er weitere fünf Kandidaten aus und ordnete diese im Ordner mit den unwahrscheinlichen Personen ein.

 

Die Akten der drei Favoriten druckte er aus und legte eine Kopie auf den Schreibtisch von Hauptkommissar Strecker. Damit hat der beim Kriminalrat zumindest schon mal etwas von seinem Papier zum Vorzeigen. Mehr konnte er hier am Schreibtisch aktuell nicht tun und bevor er wegen weiterer Recherchen auf die Personen im Umfeld der Verschwundenen zuging, war es ratsam, auf die Erkenntnisse der Pathologen zu warten.

 

Also wandte er sich dem Bericht zu. Da sie noch nicht viel wussten, war auch nicht viel zu dokumentieren, folglich war er schnell fertig. Aber nicht schnell genug, um in die Kantine zu verschwinden, bevor Strecker wieder in das Büro kam. Dass dieser noch missmutig auf einem Rest von einem Brötchen herumkaute und offensichtlich zwischenzeitlich in die Kantine abgetaucht war, verbesserte die Laune von Lohr kaum. Was die schlechte Laune anging, waren sie sich endlich einmal ebenbürtig.

 

Haben sie schon etwas herausbekommen“, fragte Strecker mit noch vollem Mund. Missmutig wies Max Lohr auf die Akten auf Streckers Schreibtisch hin.

 

Die Pathologen sind noch dran. Daher ist das alles, was wir bisher haben. Wenn die Pathologen uns keine weiteren Erkenntnisse liefern, werden wir uns im Umfeld der Vermissten umsehen und uns dort weitere Informationen und Materialien holen müssen“.

 

Dann ist ihr Nachmittag ja bereits gut verplant“, erwiderte Hauptkommissar Strecker. Er hatte sich gerade die Akten vorgenommen, als sein Telefon klingelte. Die Pathologie rief an, um den Kommissaren mitzuteilen, dass die Obduktion abgeschlossen war. Wenn sie nicht auf den Bericht warten wollten, sollten sie sofort herüberkommen.

 

Natürlich wollten sie nicht warten. Kommissar Lohr hatte zwar nur den Teil des Gespräches verfolgen können den der Hauptkommissar gesprochen hatte, aber den gesamten Inhalt konnte er sich leicht zusammenreimen. Noch vor Strecker sprang er von seinem Stuhl auf und machte sich, verfolgt von seinem Kollegen auf den Weg in die Garage.