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Fatebug - Tödliches Netzwerk 9

 

9.

 

 

 

Der Fallanalytiker war vorübergehend in das Büro eines sich derzeit im Urlaub befindlichen Kollegen auf dem Flur gezogen, in dem auch das Büro der Kollegen Strecker und Lohr lag. Das Präsidium hatte zwar auch spezielle Räume für Ermittler, die nur für eine temporäre Unterstützung vor Ort waren, jedoch gab es keinen dieser Räume in der Nähe des Büros der beiden mit dem Fall befassten Kölner Ermittler. Er hatte seinen Laptop neben dem Computerbildschirm auf dem Schreibtisch platziert und studierte darauf die Fallakte. Bilder vom Tatort, der Obduktionsbericht und die spärlichen Informationen die Kommissar Lohr am Vormittag erfasst hatte, studierte er wieder und wieder. Glaubte er einen Ansatzpunkt zu haben, recherchierte er diesbezüglich jeweils in diversen Systemen und Datenbanken nach Sachverhalten und Hinweisen. Der Berg an Informationen wuchs, was diese für den aktuellen Fall wert waren, musste sich aber erst noch erweisen. Das elektronische Gedächtnis des Landeskriminalamtes sowie weiterer verbundenen Behörden im In- und Ausland war voll von Informationen über Kapitalverbrechen. Und natürlich war es einer der ersten Ermittlungsansätze nach Taten zu suchen, die mit dem aktuellen Fall möglichst viele Parallelen aufwiesen. Die Recherchen führten den Profiler auch zu vielen, mehr oder weniger ähnlichen bestialischen Mordfällen, aber letztlich hatte er auch nach nunmehr zwei Stunden keinen Fall gefunden, von dem er das Gefühl hatte, dass er mit dem aktuellen Fall zusammenhing. Der Mörder, war bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Jedenfalls nicht mit dieser Handschrift. Aber immerhin konnte er eine Frau vorerst als Täterin ausschließen. Die Blutergüsse an den Oberarmen des Opfers hatten ergeben, dass das über 90 Kilogramm schwere Opfer in bewusstlosem Zustand von einer Person auf den Metalltisch gehoben wurde.

 

Er musste versuchen, sich anhand der wenigen vorhandenen Erkenntnisse ein Bild von dem Mann zu machen. Der Täter wusste, was er tat. Geht man davon aus, dass es sich bei dem Opfer um einen der Verschwundenen handelte, deren Umfeld Kommissar Lohr gerade prüfte, hat der Täter das Opfer mindestens zwei bis drei Tage in seiner Gewalt gehabt, bevor er den Mord verübte. Das bedeutete, er musste dafür ein Quartier gehabt haben, denn im Umfeld des Tatorts, das man am heutigen Morgen abgesucht hatte, hatten die Beamten nichts entdeckt. Also musste es irgendwo anders eine Art Gefängnis geben. Selbst wenn das normale Wohnumfeld das Gefängnis war, musste der Täter sicher Vorbereitungen getroffen haben, denn niemand kann einen unfreiwilligen Gast für längere Zeit unterbringen, ohne sich vorab um die Versorgung des Gefangenen zu kümmern. Das galt natürlich auch für den Fall, dass das Gefängnis an einem anderen Ort war. Zudem musste der Täter sich darum gekümmert haben, dass das Opfer nicht fliehen oder auf sich aufmerksam machen konnte. Er musste das Opfer also dauerhaft außer Gefecht setzen, durch Drogen oder Fesseln zum Beispiel, es irgendwo unterbringen, wo es nicht fliehen konnte und es niemand hören konnte. Der Täter musste sich also um sein Opfer kümmern können, er brauchte also Zeit. Er ging, so vermutete der Profiler, in dem Zeitraum nicht ständig zur Arbeit. Das half noch nicht wesentlich die Tätergruppe einzugrenzen, aber es war schon mal ein Anfang. Der Täter hatte zudem genügend Geld, um die Unterbringung und den Transport zu finanzieren. Der Transport war nur durch ein Auto möglich, entweder geliehen oder eher sein eigenes. Das Auto war vermutlich etwas größer, denn er hatte nicht nur das Opfer, sondern auch den Metalltisch in die Werkstatt transportieren müssen. Ob beides gleichzeitig oder ob er den Tisch bereits vorher an den Tatort gebracht hatte, war offen. Wahrscheinlich war der Tisch schon vorher dorthin transportiert worden. Sonst hätte er schon einen Transporter gebraucht. Und es war kein zusätzliches Risiko, den Tisch schon vorher dort abzustellen. Er hatte sich den Tatort vorher sowieso schon anschauen müssen. Sie würden überprüfen müssen, wo solche Tische verkauft wurden. Das war zwar nicht sehr erfolgversprechend, aber neben den Kabelbindern der einzige Gegenstand, von dem sie wussten, dass er dem Täter gehört hatte. Und die Kabelbinder gab es in jedem Baumarkt. Nicht viel bisher. Aber da war ja noch das Motiv. Das war einfach. Für eine derartige Tat gab es eigentlich nur zwei Gründe. Sex schied aus, blieb nur Hass. Zeit für ein erstes Gespräch mit den Ermittlern.

 

Klaus Sehlmann klappte seinen Laptop zu, stand auf, nahm seinen Rechner in die Hand und machte sich auf den Weg in das Büro der beiden Kollegen.

 

Auch Max Lohr war mittlerweile zurück. Der Besuch in Dellbrück war ähnlich verlaufen wie die beiden vorherigen. Vom Vermissten nichts Neues, keine neuen Hinweise zu Tattoos, Narben, Verletzungen oder sonstige Neuigkeiten. Und als Beute Kamm, Zahnbürste und ein Paar Socken. Auch den Besuch beim Zahnarzt hatte er schon erfolgreich hinter sich gebracht. Die Materialien und die Zahnarztunterlagen von Kuchinski und Bender waren schon auf dem Weg in die Pathologie. Um die Adresse des Zahnarztes von Donner würde sich Frau Riedel, eine der Assistentinnen des Dezernats, kümmern, der er das Schreiben mit Moritz Donners Versicherungsdaten schon übergeben hatte. Frau Riedel würde auch versuchen, den Zahnarzt zu kontaktieren und die Unterlagen beschaffen. Sie würde den Zahnarzt bitten, diese zu ihren Händen an das Präsidium zu mailen oder einer von Frau Riedel geschickten Streifenwagenbesatzung zu übergeben. Die Unterlagen würden dann gleich per Transportfahrt oder Mail in die Pathologie gelangen, ohne dass der Kommissar sich selbst bemühen musste.

 

 

 

Die Besprechung, in der die Ermittler sich ein gemeinsames Bild über den derzeitigen Stand der Erkenntnisse verschafften, war zwar kurz, jedoch war es draußen bereits dunkel, als sie endete. Max Lohr hatte zwischenzeitlich auch bei Frau Riedel angerufen und erfahren, dass die Zahnunterlagen von Moritz Donner auf dem Weg in Pathologie waren. Der Zahnarzt hatte sich kooperativ gezeigt und die Papiere der Streifenwagenbesatzung übergeben. Sollte es sich bei dem Verstorbenen um einen der drei Kandidaten handeln, würden sie es innerhalb der nächsten Stunden erfahren. Da es sowohl für einen Besuch in der Pathologie, als auch für eine Besichtigung des Tatortes zu spät war, einigte man sich darauf, dass Max Lohr den Analytiker am nächsten Vormittag zu beiden Orten begleiten sollte. Und dann, Feierabend für heute. Klaus Sehlmann war das sehr recht, er hatte noch etwas vor.