· 

Fatebug - Tödliches Netzwerk 32

 

32.

 

 

 

Die Nächte waren schon kühl. Ein Auto bot zwar Schutz vor Blicken. Aber die Kälte kroch nahezu ungehindert herein. Zumindest bestand so keine Gefahr einzuschlafen, obwohl er vorgebaut und sich den ganzen Nachmittag hingelegt hatte. Dann war er rüber nach Hamburg gefahren, durch den Elbtunnel. Nur wenige Minuten später stand er mit seinem Bus, das Heck wegen der abgedunkelten Scheibe Richtung Hintereingang der Villa in Position. Natürlich in sicherer Entfernung, er durfte nicht auffallen. Und schon gar nicht mit dem Bus auf eine Videoaufnahme der Kamera am Eingang geraten. Dass er auf eine Aufnahme geriet, ließ sich nicht vermeiden. Er hatte bereits kurz nach seiner Ankunft den Türcode getestet. Erfolgreich. Sie hatten ihn nicht geändert. Wie nachlässig. Dabei war er natürlich aufgenommen worden. Aber auch darauf hatte er sich vorbereitet. Falscher Bart. Eine tief in das Gesicht gezogene Schirmmütze. Und trotzdem hatte er jeden Blick in die Kamera vermieden. Keine zehn Minuten, den Weg inklusive hatte die Aktion gedauert und er saß wieder im Bus. Und das Warten begann.

 

Er würde sitzen bleiben, bis der Junge das Haus verließ. Also bis zum späten Abend. Die Jugend ging ja heutzutage eher spät aus. Vor 23 Uhr war nichts los in den Klubs. Hoffentlich fand der Student keinen Anschluss. Wenn doch, würde er noch später nach Hause kommen. Und er würde noch länger warten müssen. Gott sei Dank, brachte er seine Eroberungen nie mit nach Hause. Immer ging es nur zu ihr. Oder in ein Hotel, wenn es bei ihr nicht ging. Mit nach Hause brachte er sie nie. Bisher.

 

Dann ging das Tor auf. Der Student stieg in den unmittelbar vor dem Tor stehenden Sportwagen, startete den Motor und er konnte sehen, wie die roten Rücklichter immer kleiner und schwächer wurden.

 

Er wartete noch ein paar Minuten, dann machte er sich auf den Weg. Wieder verkleidet als Handwerker, mit Werkzeugkoffer und Tasche. Darin seine übliche Ausrüstung. Er ging zum Tor, gab den Code ein, drückte die Tür auf und schlüpfte hindurch. Keiner hatte etwas bemerkt. Und in die Kamera hatte er auch nicht gesehen.

 

Dieses Mal gab es etwas mehr zu erledigen. Da er bisher keine Gelegenheit hatte, sich die Räumlichkeiten im Vorfeld anzusehen, - es war ihm zu riskant erschienen -, musste er sich zunächst mit den Gegebenheiten vertraut machen. Aber natürlich erst, nachdem er seine Schutzkleidung angelegt hatte.

 

Insbesondere musste er einen Platz für die Operation finden. Einen, der insbesondere die Möglichkeit bot, das Opfer sicher zu fixieren. Und etwas Licht zum Arbeiten würde er natürlich benötigen. Als Erstes sah er sich im Erdgeschoss um, zuerst in der Küche, deren Eingangstür die letzte an der linken Wand war, wenn man sich gleich hinter der Eingangstür nach rechts wandte. Funktional eingerichtet. Und an der Wand, gegenüber der Tür gab es sogar einen ovalen Tisch, aber der erschien ihm zu klein. Zudem befand er sich direkt vor einem Fenster. Zwar konnte er fast ausschließen, dass jemand anwesend sein würde, der hindurchschauen und ihn beobachten konnte, aber er hatte sich schon immer unwohl gefühlt, wenn er sich bei der Arbeit beobachtet glaubte. Er verließ die Küche, ging den Flur hinunter Richtung Eingangstür und öffnete die nächste Tür zu seiner Rechten. Ein kleines Badezimmer oder Gäste-WC. Für seine Zwecke völlig ungeeignet. Jetzt blieb nur noch eine Tür auf dem Flur. Wenn auch das Zimmer keine gute Gelegenheit bot, müsste er sich tatsächlich noch im ersten Stock umsehen. Und dies bedeutete, dass er das Opfer die Treppe herauf tragen oder zerren müsste. Doch seine Sorgen waren unberechtigt. Das sah er gleich, nachdem er die letzte Tür geöffnet und das Licht angeschaltet hatte. Hinten rechts befand sich ein Tisch, eingerahmt von einer Eckbank und zwei Stühlen, eine schöne Distanz vom nächsten Fenster entfernt. Er sah sich den Tisch genauer an und befand ihn für geeignet. Das Werkzeug konnte er auf der Bank platzieren, für die Kamera war rechts unten neben dem Tisch, neben der Durchreiche aus der Küche, genügend Platz. Die Vorbereitung dauerte keine fünf Minuten, inklusive Aufbau und Test der Kamera. Dann hieß es wieder warten. Und diesmal war es besonders schwierig. Er wusste nicht, wann der junge Mann zurück sein würde. Es konnte bis zum nächsten Morgen dauern. Oder auch nur zwei bis drei Stunden. Je nachdem, wie es in den Clubs lief. Ob er sich amüsierte, ob er jemanden kennenlernte. Oder abschleppte. Er hatte sich ein Buch mitgebracht. Und einen Wecker, den er permanent stellte und der alle fünf Minuten rappelte. Nur zur Sicherheit. Ein mechanischer Wecker. Er nutzte nicht sein Smartphone. Das war aus. Schon lange. Schon seit er nach Hamburg aufgebrochen war. Sie sollten nichts über ihn finden. Bis auf das, was er ihnen mitteilen wollte.

 

Und es wurde spät. Oder eher früh, um präzise zu sein. Es war schon seit einiger Zeit hell. Und es war ja November. Doch dann wurde er endlich erlöst. Er hatte die ganze Zeit im Flur warten müssen. Hatte auf der Treppe gesessen. Weil er nur von dort die Hintertür sehen und überhaupt irgendwo sitzen konnte. Aber egal wie lange es gedauert hatte, für den Studenten würde es noch länger dauern. Und noch unangenehmer werden. Alles stand bereit. Das Fläschchen, der Lappen.

 

Er schlüpfte hinter die Tür, öffnete das Fläschchen, steckte den Verschluss in die Tasche des Schutzanzuges und träufelte einige Tropfen der Flüssigkeit auf den Lappen. „Jetzt nur nicht zu tief einatmen“, dachte er, während er lauschte, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Die Tür ging auf, eine Gestalt, eher nur ein Schatten schob sich in den Flur. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. Er griff von hinten über die Schulter des Studenten und presste ihm den Lappen vor das Gesicht. Gleichzeitig packte er den jungen Mann mit dem linken Arm um die Hüfte und schob ihn weiter in den Flur. Der Student ruderte kurz mit den Armen, sackte dann aber schnell zusammen. Er ließ ihn auf den Boden gleiten und schloss die Tür. Dann packte er den leblosen Körper von hinten unter den Armen und zog ihn in das Wohnzimmer. Zum Tisch. Er legte den Oberkörper auf den Tisch, packte den Student bei den Beinen und hob auch diese auf den Tisch. Was dann kam, war Routine. Den Körper auf dem Tisch fixieren, indem er Arme und Beine mittels Kabelbindern und Schlingen an die Tischbeine fesselte. Mit der Kamera wartete er dieses Mal noch. Vor der eigentlichen Tat musste er noch ein Interview führen. Er musste noch an die Aufnahmen von der Kamera am Eingang kommen. Dazu brauchte er den Studenten noch. Und wenn er ihn erst aufgeschlitzt hatte, war nicht sicher, ob dieser noch motiviert war. Wenn er erst mal erkannt hatte, das seine Zukunft zu Ende war. Ob er dann noch was sagen würde? Wahrscheinlich musste er ihn sogar noch zusätzlich motivieren. Auch dafür hatte er sich Werkzeug mitgebracht. Mit der Kombination aus Schmerz und Hoffnung würde er die besten Chancen auf die Informationen haben.

 

Zwar hatte er den Blickkontakt mit der Kamera vermieden und sich zudem verkleidet, aber eine gewisse Aussagekraft hatten die Aufnahmen schon noch. Welche Kleidung bzw. Gegenstände hatte er getragen, wann war er gekommen, wann gegangen. Informationen, die für eine Fahndung vielleicht nicht entscheidend, aber doch hilfreich sein konnten. Die wollte er ihnen nicht ohne Not liefern. Deshalb wollte er die Aufzeichnungen der Kamera vernichten oder noch besser manipulieren. Dass das Kamerabild dauerhaft von einem Wachdienst beobachtet wurde, schloss er aus. Dafür hatte sich an der Hintertür zu wenig getan. Zu viele Personen kamen und gingen unregelmäßig hindurch. Er vermutete, dass die Kamera permanent oder in zeitlichen Sequenzen, letztere ausgelöst durch einen Bewegungsmelder die Geschehnisse aufzeichnete. Oder Schnappschüsse versendete. Wenn die Aufzeichnungen auf einem zentralen gesicherten Server eines Dienstleisters lagen, würde er wahrscheinlich nicht herankommen. Würden sie aber an das Mailpostfach eines Bewohners oder einen lokalen Fileserver gesendet, könnte der Student wissen, wie man dort herankommt. Er musste nur Passwörter und Speicherorte aus ihm heraus bekommen. Er war sich sicher, was der Junge wusste, würde er ihm auch verraten.

 

Guten Morgen“, begrüßte er den Studenten, der mit Kräften an seinen Fesseln zog. Erfolglos, wie er zufrieden feststellte. Er wartete einen Moment, bis er sicher war, das der Student sich von der Nutzlosigkeit seiner Bemühungen überzeugt hatte.

 

Sparen sie sich doch ihre Kräfte. Hören Sie mir lieber zu“, sagte er und beugte sein Gesicht in Richtung Kopf des Opfers. Er brauchte ja keine Angst zu haben, dass der Mann sein Gesicht sah. Er würde es ja nicht mehr beschreiben können. Dass er trotzdem seinen Mundschutz noch durch eine Sonnenbrille ergänzt hatte, war nur dem Umstand geschuldet, dass er sein Opfer dies noch nicht wissen lassen wollte. „Wir sollten uns die Sache nicht schwieriger machen als nötig. Ich werde Ihnen gleich einige Fragen stellen. Die sollten Sie wahrheitsgemäß beantworten. Wenn Sie nicht antworten oder falsch antworten, werde ich diese hier benutzen“. Bei diesen Worten hielt er eine Astschere in das Gesichtsfeld des Studenten, dessen Augen sich unverzüglich in Panik weiteten. „Sie können also maximal 20, nein sogar 21 mal falsch oder nicht antworten. Falls Sie ein wirklich starker Held sind. Natürlich werde ich ihnen den Knebel abnehmen, damit ich Ihre Antworten verstehen kann. Wenn sie zu laut antworten oder gar schreien, gilt das natürlich als falsche Antwort. Verstanden? Dann nicken Sie bitte kurz mit dem Kopf“.Der Student hatte verstanden und nickte.

 

Wo werden die Bilder der Kamera an der Hintertür gespeichert?“, fragte er. „Während sie sich die Antwort überlegen, nehme ich den Knebel ab. Aber denken sie daran. Aussageverweigerung, falsche Antworten oder gar Schreien haben Konsequenzen“. Bei den letzten Worten hielt er dem Studenten nochmals deutlich die Astschere in dessen Sichtfeld.

 

Er konnte kaum folgen, so schnell kamen die Worte aus dem Mund seines Opfers.

 

Jetzt nochmals langsam. Zum Mitschreiben. Also die Kamera sendet eine Mail an ihr Postfach, wenn sich an der Tür was tut. Und zusätzlich wird noch ein Film auf dem Server im Haupthaus gespeichert. Gut, hier kommen die nächsten Fragen. Wo ist ihr Laptop? Wie lautet das Passwort? Gibt es ein Passwort für das Mailprogramm?

 

Er hatte Glück. Beide hatten Glück. Er, weil die Kameraaufzeichnungen über das WLAN-Netz des Anwesens vom Laptop des Studenten zugreifbar waren und es keine redundanten Aufzeichnungen auf zentralen Servern gab, an die er über das WLAN-Netz nicht herankam. Der Student, weil er all das wusste und alle nötigen Passwörter kannte. Und alles preisgab. Ohne dass er gezwungen wurde, die Astschere zu benutzen.

 

Er brauchte eine knappe halbe Stunde, bis er sich im Netz zurechtfand, die nötigen Programme bedienen konnte und die Dateien gefunden und gelöscht hatte. Über ein Administrationsprogramm schaltete er auch die Kamera für den Zeitraum von jetzt bis über den Zeitpunkt, an dem er das Anwesen verlassen würde, hinaus aus. Danach, das konnte das Steuerprogramm der Kamera leisten, würde sie wieder Bilder aufzeichnen. Und da er alle notwendigen Zugangsdaten hatte, könnte er sich ihrer sogar über das Internet bedienen, also durch sie sehen, wie und wann die Ermittler durch die Hintertür kamen und gingen. Zufrieden lehnte er sich kurz zurück. Dann erhob er sich mit einem Seufzer. Es gab ja noch etwas zu tun. Zuerst musste er dem Studenten mitteilen, dass er seine Dienste nicht länger benötigen würde.

 

Als er dem Studenten mitteilte, warum er hergekommen war und was seine eigentlichen Absichten war, weiteten sich dessen Augen so panisch, dass es fast aussah, als wollten die Augäpfel aus den Höhlen springen. Er schrie, was man wegen des wieder angelegten Knebels aber nur als dumpfes Stöhnen wahrnehmen konnte. Seine Arme und Beine zuckten in den Fesseln, der Kopf wurde hektisch hin- und hergeworfen.

 

Er war entschlossen, es leichter zu machen. Sich und dem Studenten. Er träufelte nochmals etwas Flüssigkeit aus dem Fläschchen auf den Lappen und drückte diesen dem jungen Mann auf Mund und Nase. Schon nach wenigen Sekunden hörte das Zucken auf.

 

Er schaltete die Kamera ein und machte sich an das Werk. Er arbeitete konzentriert und ohne Pause. Es klappte immer besser. Kein Schnitt ging daneben. Trotz der starken Blutungen. Trotz des erbärmlichen Gestanks. Gut für ihn, schlecht für den Studenten. Je besser er arbeitete, desto länger würde er leben, desto länger würde er leiden. Nochmals würde er ihn nicht betäuben. Ihm war wieder eingefallen, weshalb er ihn überhaupt ausgesucht hatte.