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Fatebug - Tödliches Netzwerk 56

 

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Auch am Dienstagmorgen traf sich die Ermittlergruppe wieder im Bundeskriminalamt, um das Team auf den neuesten Stand zu bringen, die Aktivitäten für den neuen Tag festzulegen und die daraus resultierenden Aufgaben zu verteilen. Als ersten Tagesordnungspunkt gab Hauptkommissar Faber dem Team allerdings einen Überblick über das Echo auf die Pressekonferenz vom Vortag.

 

Und sie waren in allen Medien. Hatten die Fernsehsender am Vortag und in den frühen Morgenstunden noch relativ moderat berichtet, boten sich die Blätter der Boulevardpresse ein wahres Schlachtfest in Sachen kreativer Titelgestaltung. In dicken Lettern war vom „Schlächter“, „Schlachter“ oder „Metzger“ zu lesen. Dies war ebenso wenig überraschend, wie die journalistische Auferstehung von „Jack the Ripper“. Die Berichte konzentrierten sich auf die bestialische Vorgehensweise der Morde, Fragen nach dem Motiv und weiteren Zusammenhängen blieben weitgehend ungestellt.

 

Auch die überwiegend negative Berichterstattung über ihre bisherige Fahndung war für die meisten Beamten keine Überraschung. Erstens war ihnen klar, dass der aktuelle Ermittlungsstand keinen Grund zu Lobeshymnen bot. Und sie hatten ja noch nicht einmal über ihre wirklichen Erkenntnisse berichten können. Zudem hatten viele bereits Nachrichten im Radio gehört oder Zeitung gelesen. Und nahezu alle Medien waren sich einig: sie wussten nichts, waren hilflos und laut einiger Boulevardblätter dazu auch noch unfähig.

 

Immerhin, so wusste der telefonisch zugeschaltete Staatsanwalt Dr. Werner zu berichten, war es ihnen gelungen, die Videos von den Fatelogauftritten der Opfer löschen zu lassen. Leider, so musste Kommissar Sehlmann ergänzen, waren noch zahlreiche Webseiten bekannt, über die die Videos weiterhin aufrufbar waren. Man konnte davon ausgehend, dass die Videos von mehreren Tausend Nutzern angesehen und teilweise weiter verteilt wurden. „Das ist nicht mehr zu stoppen. Wir können nur hoffen, dass das Interesse schnell nachlässt“, resümierte er.

 

Aber so lange der Fall nicht geklärt ist, wird das nicht passieren“, bemerkte Hauptkommissarin Garber.

 

Aus Köln gibt es noch eine schlechte Nachricht“, kam eine Stimme aus dem Telefon. Sie gehörte Kommissar Lohr. „Wir haben an der Decke des Kölner Tatorts die Kamera gefunden. Sie war noch funktionsfähig. Ob der Täter noch Bildmaterial von unseren Ermittlungen hat, wissen wir nicht. Theoretisch war das möglich. Sie war in ein WLAN-Netz eines Handwerksbetriebes integriert, der einen Nebenraum benutzt. Aufnahmen gesehen haben wir zwar noch nicht, aber das will nichts heißen. Entweder hat der Täter noch nichts veröffentlicht oder wir haben es einfach noch nicht gefunden.“

 

Wie Kollege Sehlmann schon festgestellt hat, können wir auf die, ich nenne sie mal Öffentlichkeitsarbeit des Täters nur reagieren. Konzentrieren wir uns auf unsere Ermittlungen. Wie ich Staatsanwalt Werner verstanden habe, ist, in Bezug auf die seitens Fatelog geforderten Informationen alles getan, was in unserer Macht stand. Darauf verlassen, dass wir von den Amerikanern Informationen bekommen, können wir uns nicht. Was haben wir sonst?“.

 

Marten, der am Vortag noch den Auftrag bekommen hatte, die Ermittlungsergebnisse zu konsolidieren, fasste den Stand kurz zusammen:

 

Nach wie vor haben wir leider nichts, was man auch nur annähernd als heiße Spur bezeichnen könnte. Die Auswertung der Videoaufnahmen hat keinerlei brauchbare Hinweise auf den Täter geliefert. Kleidung, Bewegungsabläufe, alles ohne Spezifika. Die Befragungen im Umfeld der Tatorte bzw. Fundorte haben keinerlei Gemeinsamkeiten ergeben. Der beste Hinweis ist noch der, dass zwei Nachbarn des Bonner Tatortes in den Tagen vor dem Mord ein Kleinbus aufgefallen ist, der dort parkte. Aber auch hier ansonsten keine Übereinstimmung, keine oder besser gesagt zwei verschiedene Farben des Fahrzeugs. Immerhin schwarz und dunkelblau, sodass wir zumindest von einem dunklen Bus ausgehen können. Typ oder gar Kennzeichen: Fehlanzeige. Wir befragen deshalb noch einmal die Zeugen an den anderen Tatorten. Müssen aber vorsichtig sein, sobald wir zu konkret nachfragen, kriegen wir nur das Echo auf unsere Fragen als Antwort. Zudem suchen wir in Aufzeichnungen von öffentlichen oder privaten Kameras in der Nähe der Tatorte nach ähnlichen Bussen. Aber nur am Hamburger Tatort, durch die Kamera am Grundstückseingang, gibt es eine Kamera, die auch Teile der Straße erfasst. An den anderen Tatorten gibt es keine Kameras in direkter Nähe. Trotzdem suchen und sichten wir, was wir kriegen können. Wir suchen natürlich auch nach weiteren Posts von Fatebug. Aber eigentlich nur, um dem Zufall eine Chance zu geben. Ohne Unterstützung von Fatelog können wir nur die Fatelogseiten x-beliebiger Personen ansehen und müssen sie manuell auf verdächtige Einträge untersuchen. Erwarten können wir hier nichts“.

 

Was wissen wir über den Täter, Kommissar Sehlmann“, fragte Hauptkommissar Faber nach.

 

Wissen tun wir auch dazu eigentlich nichts. Trotzdem haben wir gewisse Vorstellungen, mit wem wir es hier zu tun haben. Es geht um einen Mann im mittleren Alter, er ist ca. 1,80 m groß und schlank. Er hat keine sichtbaren motorischen Einschränkungen. Er kann Auto fahren. Er ist technisch versiert, insbesondere in Bezug auf Informationstechnologien. Zudem hat er zumindest Grundkenntnisse über die Arbeit von uns und der Presse und weiß das zu nutzen. Er ist ziemlich intelligent, vorausschauend und vorsichtig. Dies ist auch daran erkennbar, dass er über die Spuren von Tätigkeiten im Internet Bescheid weiß und diese gezielt vermeiden kann. Er hat keine finanziellen Probleme, alles was er für seine Taten benötigte, Kamera, Rechner, Schutzkleidung, Betäubungsmittel hatte er. Das ist zugegeben nichts, was den Kreis der Verdächtigen einschränken könnte. Deshalb basieren unsere wichtigsten Kriterien auf seinem wahrscheinlichen Motiv. Hass oder Rache. Wir vermuten, aufgrund der Auswahl der Opfer, dass der Täter oder eine Person in seinem Umfeld in Folge von im Internet artikuliertem Hass zu Schaden kam. Erheblich zu Schaden kam, wahrscheinlich durch einen Mord oder noch wahrscheinlicher durch einen Selbstmord. Dieser Vorfall, der Auslöser für seinen Rachefeldzug, dürfte mindestens 6 Monate zurückliegen. Dafür spricht die für die Planung der Morde notwendige Vorbereitungszeit. Zudem sollte der Täter aus dem Köln bzw. Bonner Raum kommen. Wegen der einfacheren Logistik. Beim Ausspionieren der Opfer und Örtlichkeiten und bei der Tatausführung.“

 

Wie viele Morde gibt es jährlich in Deutschland“, wollte Kommissar Marten wissen.

 

Das schwankt in der Regel um die 300 Taten“, antwortete Sehlmann. „Aber wir haben leider pro Jahr um die 10.000 Selbstmorde. Und wir wissen nicht, wie lange wir zurückgehen müssen. Mindesten sechs Monate, aber für welchen Zeitraum? Ein Jahr, zwei Jahre, länger vermutlich nicht. Und es könnten ja auch noch ganz andere Schadensfälle sein“.

 

Egal“, sagte Hauptkommissar Faber. Alles, was die Menge einschränken hilft. Wir suchen vorrangig nach Opfern von Morden und Selbstmorden in NRW, im Zeitraum von Juli 2014 bis Juli 2016. Marten setzen sie alles in Bewegung, um an die Namen zu kommen. Dann brauchen wir die Namen von männlichen Familienangehörigen im mittleren Alter“.

 

Wir sind schon dran“, antwortete Kommissar Marten. „Leider ist NRW statistisch gesehen das Land mit den meisten Selbstmorden 2013, über 1700. Aber wir tun was wir können“.