Fatebug - Tödliches Netzwerk 94

 

94.

 

 

 

Faber“, meldete er sich, nachdem er den Anruf auf seinem Handy angenommen hatte und blickte irritiert auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. 21:30 Uhr, bis nach Dresden waren es laut Anzeige des Navigationssystems noch gut eine Stunde.

 

Sie waren bisher gut vorangekommen, die geräumige Limousine glitt fast geräuschlos und mit nahezu konstanter Geschwindigkeit durch die Dunkelheit.

 

Ich habe dir eine Nachricht geschickt“ tönte Herbert Marten Stimme aus dem Smartphone. „Sieh dir die Anhänge an. Das solltest du wissen, wenn du die Kollegen in Dresden triffst. Wir untersuchen das auch weiter. Wenn du Fragen hast, ruf also ruhig an. Du störst uns nicht, höchstens vielleicht bei der Arbeit“. Dann hatte der Anrufer aufgelegt.

 

Der Hauptkommissar öffnete die aktuellste Mail. Kein Text, also musste die Brisanz in der Anlage liegen. Und das lag sie.

 

Die erste Anlage war eine PDF-Datei der Abendausgabe eines im Köln-Bonner Raum weit verbreiteten Lokalblatts. Schon die Schlagzeile ließ das Schlimmste befürchten: „XPRESS-Reporter bringt Polizei zu nächstem Fatebug-Opfer“. Direkt darunter ein Bild auf dem vor dem Hintergrund aus einer Hecke und mehreren Einsatzfahrzeugen eine Trage in Richtung eines dunklen Vans transportiert wurde. Dass es sich hier um den Abtransport der Leiche handelte, hätte Faber auch ohne die Bildunterschrift erkannt.

 

Unter dem Bild befand sich ein kurzer Artikel in dem, ohne Nennung von Details, geschildert wurde, wie der Reporter nach der Lösung eines ihm von Fatebug zugespielten Rätsels den nächsten Tatort fand und dort die Polizei auf das Verbrechen aufmerksam gemacht hatte. Details, so das Versprechen auf der Titelseite, würden die Leser auf den Seiten zwei bis vier finden.

 

Auf den Folgeseiten wurde die Geschehnisse seit dem Eintreffen der Nachricht von Faithback, der Entschlüsselung des Rätsels, der Suche nach dem Tatort, sowie der Identifizierung des Tatorts und der Alarmierung der Polizei chronologisch geschildert. Angereichert durch zahlreiche Fotos, vom Tatort mit mehr oder weniger großer Polizeianwesenheit, aber auch Bilder von der Tat selbst, bei denen es sich, wie im Text beschrieben, um Standbilder des von Fatebug, nein nun Faithback, versendeten Videos handelte. Natürlich war auch die an die Redaktion adressierte E-Mail abgedruckt, die Passagen mit dem Namen des Absenders und dem Logo durch optische Maßnahmen vergrößert.

 

Faithback“, dachte sich Faber, klar er musste sich einen neuen Namen geben, Fatebug war gesperrt und somit nicht mehr verwendbar.

 

Ein Signalton seines Smartphones riss ihn aus seinen Gedanken, er blickte auf das Display, eine weitere Mail war eingetroffen. Der Text bestand aus einem Link den er sofort aktivierte. Er konnte sich denken, wohin der Link ihn führen würde. Er wurde nicht enttäuscht.

 

Auf der Fatelogseite von Faithback prangte das Logo, dass der Nutzer statt seines Profilbildes abgebildet hatte. Faber war sich sicher, dass es dieses Mal mit dem Löschen des Accounts schneller gehen würde. Deutlich schneller. Humor und Ideen hatte er, das musste man ihm lassen.

 

Doch der Text auf seiner Seite ließ Fabers Lächeln gefrieren.

 

Lange genug haben wir uns vom Mob terrorisieren lassen. Haben uns beschimpfen und bedrohen lassen. Von feigen Gestalten, die ihre Aggressivität und ihren Hass unter dem Schutzschild der Meinungsfreiheit ungehindert verbreiten konnten. Unterstützt von geldgierigen, moralfreien Konzernen. Doch damit ist jetzt Schluss. Da die Regierung nicht in der Lage ist, die Demokratie und Freiheit zu schützen, müssen wir uns selber wehren. Der Mob muss zur Rechenschaft gezogen werden. Von mir. Von uns. Sucht sie, bedroht sie, bestraft sie!“

 

Und so beunruhigend der Text schon war, die Anzahl von Likes die Faithback für diese Aufforderung bekommen hatte, war noch viel beunruhigender.

 

Dresden und ihre Ankunft waren nun gemäß der Prognose des Navigationsgeräts weniger als eine Viertelstunde entfernt.

 

Hauptkommissar Faber rief seinen Kollegen Marten an.

 

Das ist ja ein ziemlicher Schlamassel“, begrüßte er seinen Kollegen.

 

Du hast es also gelesen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sich der Trubel in der nächsten Woche etwas legt und wir uns auf die Arbeit konzentrieren können. Das wird nun nichts. Das sieht Frau Garber übrigens genauso. Sie steht neben mir. Sie wollte unbedingt herauskommen, nachdem ich sie angerufen und ihr die Informationen geschickt hatte, die Du auch bekommen hattest. Willst Du sie kurz sprechen?“

 

Ja bitte“, antwortete Faber, obwohl er eigentlich gar nicht mit ihr sprechen wollte. Aber zumindest wollte er sich bei ihr bedanken, dass sie ihren freien Abend abgebrochen hatte. Die übrigen Kollegen waren für ihre spezifischen Aufgaben hervorragend ausgebildet und entsprechend motiviert. Aber ihnen fehlte die Erfahrung im Außendienst, die Fähigkeit im Umfeld einer Geschichte Merkwürdigkeiten und Ungereimtheiten zu erspüren und diesen konsequent und unnachgiebig nachzugehen.

 

Hallo, welche ungewöhnliche Freizeitgestaltung für einen Samstagabend“, begann er das Gespräch.

 

Ich hatte gerade nicht besseres vor. Da war ich froh, dass Kollege Marten mich angerufen hat, bevor es richtig langweilig wurde“, scherzte sie zurück.

 

Hat er dich denn noch rechtzeitig vor der Oper alarmiert oder musstest Du die Peinlichkeit ertragen, dass sich alle Blicke im Saal auf dich konzentrierten, weil das Klingeln dieses Mal aus deiner Handtasche kam?“.

 

Nein, die Oper muss nicht umgeschrieben werden, weil man feststellen musste, dass an einer Stelle ein Klingeln fehlt“, antwortete sie.

 

In der Tat hatte sie der Anruf am späten Nachmittag erreicht. Sie hatten noch im Bett gelegen, sie und Heinz, ihr neuer Freund. Es war die Phase nach einem gemeinsamen Nachmittag im Bett, die mit Sekreten verklebten Körper eng aneinander geschmiegt, unschlüssig, ob sie etwas essen oder sich ein weiteres Mal lieben sollten. Diese Entscheidung hatte ihnen der Anruf abgenommen. Heinz wusste sofort, dass mit dem Anruf der gemeinsame Abend gestorben war. Quasi auch von Fatebug ermordet, der Abend. Eigentlich durfte sie ihm ja nicht sagen, an welchen Fällen sie arbeitete, aber irgendwann, nachdem er sie länger halb verärgert, halb scherzhaft mit ihrer mangelnden Zeit für ihn aufgezogen hatte, war es aus ihr herausgeplatzt. Sie hatte versucht, sich ihm gegenüber durch die Wichtigkeit ihrer Aufgabe zu rechtfertigen. Sie hatte es ihm von vorneherein gesagt, ihm nichts verschwiegen, ihn im Gegenteil sogar gewarnt, aber er hatte sich auf die Beziehung eingelassen. Aber es war schwerer, als sie es sich gedacht hatten, als er es sich hatte ausmalen können. Aber noch waren sie glücklich, füllten die wenig gemeinsame Zeit mit intimer Zweisamkeit, häufig mit gutem Sex. Es lag ihr was an ihm, sie machte sich Hoffnung, dass es mehr werden, länger halten könnte. Dass sie irgendwann die Wahrheit erzählen könnte, nicht mehr das Märchen von ihrer angeblichen Homosexualität, das sie irgendwann erfunden hatte, um die ständigen Avancen ihrer meist männlichen Kollegen von vorneherein zu unterbinden. Balzgehabe und Rivalität störten die Arbeit, beeinflusste die Harmonie im Team. Deshalb hatte sie sich irgendwann zu dem Märchen entschlossen. Sie erzählte das nun schon seit mehreren Jahren. Weil es so gut funktionierte.

 

Haben wir schon irgendwelche wichtigen Erkenntnisse oder weitere Informationen, die für mein Zusammentreffen mit den Kollegen in Dresden relevant sein könnten?“, fragte Faber nach.

 

Meiner Ansicht nach nein. Wir haben die Kollegen über die Veröffentlichungen informiert. Ich könnte dir jetzt noch einiges über den Fall in Dresden erzählen, aber das kriegst du von den Kollegen ja aus erster Hand“, erwiderte Kommissar Marten.

 

Wissen unsere Chefs und die Staatsanwaltschaft schon Bescheid?“, schob Hauptkommissar Faber nach. „Ich fürchte wir müssen uns auf einigen Aufruhr einstellen. Nach diesem Aufruf. Wie konnte er nur in so kurzer Zeit so viele Likes bekommen?“.

 

Zur ersten Frage: Ja“, antwortete Lydia Garber. Sie hatten das Telefon auf Freisprechen gestellt. „Die Telefonkonferenz morgen früh wird einige Teilnehmer mehr haben, als gestern geplant. Was die Likes angeht, so hat er offenbar im Vorfeld einige Mail versendet, die die Aufmerksamkeit auf die Seite lenken sollten. Was ja offenbar auch funktioniert hat. Und immer noch funktioniert. Die Zahl steigt weiterhin kräftig an. Wir haben zwar schon eine Anfrage zur Sperrung der Seite auf den Weg gebracht, aber was davon zu erwarten ist, kennst Du ja. Zudem gibt es natürlich schon zu viele Kopien im Netz, als dass man den Vorgang noch einfangen könnte. Spätestens morgen früh ist Faithback in aller Munde“.

 

Danke. Wir sind jetzt da“, sagte Faber. „Ich melde mich spätestens morgen früh. Rechtzeitig vor der Telefonkonferenz. Sollte sich aufgrund der Informationen von den Dresdner Kollegen dringendes ergeben, rufe ich natürlich sofort an. Trotzdem eine gute Nacht“.